Die Achtsamkeits-Revolution
taktilen Merkmale der Nahrung, während sie gekaut und geschluckt wird.
War das nicht eine interessante Erfahrung? Normalerweise überlagern unsere gedanklichen Vorstellungen die durch die Sinnesorgane unmittelbar wahrgenommenen Nahrungseigenschaften, vor allem wenn wir beim Essen noch mit anderen Dingen beschäftigt sind, zum Beispiel ein Gespräch führen. Wir erinnern uns nur daran, dass uns die Mahlzeit geschmeckt oder nicht geschmeckt hat oder dass wir keine Meinung dazu haben. Was aber die mit dem Essen einhergehenden fünf Arten von sinnenhaften Eindrücken angeht, so leiden wir hier gemeinhin an einer Kogni- tionsdefizitstörung. Und so wie die Mahlzeit kann auch der Rest unseres Lebens unbemerkt an uns vorübergleiten. Nur allzu oft entgeht uns ein Geschehen, stellen wir uns Dinge vor, die nie passiert sind, und erinnern uns nur an die Annahmen, Erwartungen und Phantasien, die wir auf die Realität projizierten.
Wir können die bloße Achtsamkeit jederzeit anwenden, können das »frische Hervorbringen« der Welt direkt und unmittelbar aus den Wahrnehmungsfeldern der Sinne in uns aufnehmen, ohne die nackte Erfahrung und Wahrnehmung schon vorab in die alte, gewohnheitsmäßige gedankliche Verpackung einzuwickeln. Die Herausforderung besteht hier darin, zu erkennen und zu unter scheiden, welche Realität sich unseren Sinnen von Augenblick zu Augenblick präsentiert, und was wir, oft unbewusst, der Welt überst ülpen. Darauf bezog sich der Buddha, als er sagte: »Was das betrifft, ... so hast du dich also in dieser Weise zu üben, dass alles, was du siehst, hörst, denkst und dessen du dir bewusst wirst, ausschließlich als Gesehenes, Gehörtes, Gedachtes und Bewusst- gewordenes zu gelten hat.« 17
Der buddhistischen Psychologie zufolge konzentriert sich die Aufmerksamkeit in jedem einzelnen Gewahrseinsmoment, der so kurz wie eine Millisekunde sein mag, nur auf einen einzigen Sinnesbereich. Aber im Verlauf dieser momenthaften Bewusstseins- impulse springt die Aufmerksamkeit in rasender Geschwindigkeit von einem Sinnesbereich zum nächsten wie ein mit Amphetaminen abgefüllter Schimpanse. Aus der Unklarheit oder Unschär- fe dieser Verlagerungen von einem Sinnesbereich zum nächsten stiftet der Geist »Sinn« in der Welt, indem er diesen Wahrnehmungen vertraute Begriffs- und Denkraster überstülpt. Auf diese Weise bekommt unsere Erfahrung von der Welt eine Struktur und erscheint uns vertraut. Das ist an sich keine schlechte Sache. Tatsächlich könnten wir ohne eine solche gedankliche Strukturierung im Alltagsleben kaum funktionieren. Die Probleme entstehen dann, wenn wir nicht erkennen, in welchem Ausmaß wir durch schiere Unachtsamkeit der Realität gedanklich etwas hinzufügen oder von ihr abziehen. An diesem Punkt kommt es zu Problemen der Kognitionshyperaktivität oder des Kognitionsdefizits.
Wenn diese Theorie stimmt (und Kognitionswissenschaftler erforschen heute diese Dinge), dann gibt es eigentlich nicht so etwas wie ein sich von Moment zu Moment ereignendes mentales Multitasking. Unser Geist befasst sich in jedem gegebenen Moment mit nur einem Ding. Die Wahrnehmung, dass wir uns mehreren Dingen gleichzeitig zuwenden, ist eine Illusion. In Wirklichkeit springt die Aufmerksamkeit in rasendem Tempo zwischen den ein zelnen Erfahrungs- und Wahrnehmungsbereichen hin und her. Neuere Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass das
Multitasking tatsächlich gar nicht besonders effektiv ist, weil sich die Qualität des Gewahrseins, das einer jeden Aufgabe zugewiesen wird, mindert. Es ist, als stünde uns nur ein begrenztes Quantum an Aufmerksamkeit zur Verfügung, so wie nur ein begrenztes Volumen an Wasser durch eine Schlucht fließt. Und wenn wir es in kleinere Nebenflüsse des Interesses aufteilen, steht für jeden Kanal weniger Aufmerksamkeitsvolumen zur Verfügung.
Die Praxisübung der fokussierten Achtsamkeit ist im wesentlichen »Nicht-Multitasking«. Es geht hier darum, dass wir lernen, den Gewahrseinsstrom an den Ort zu lenken, wo wir ihn hinhaben wollen, und dies so lange, wie wir es wünschen, ohne dass er unbedingt zersplittert oder aus der Bahn geworfen wird. Wenn Sie also das nächste Mal vor der Wahl stehen, ob Sie sich immer nur auf eine Erfahrung oder Wahrnehmung konzentrieren oder aber die Aufmerksamkeit und Achtsamkeit aufteilen sollen, dann überdenken Sie Ihre Prioritäten. Wenn etwas es wert ist, getan zu werden, ist es auch wert, dass man es gut macht; und wenn etwas es
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