Die Achtsamkeits-Revolution
lateinischen retrahere herleitet, bedeutet nicht nur Rückzug, sondern impliziert auch so etwas wie Niederlage, was ganz gewiss nicht dem Geist einer solchen Praxis entspricht. Das Wort »Expedition« hingegen verspricht Abenteuer, Eroberung und Erkundung. Die lateinischen Wurzeln dieses Wortes haben in ihrer Bedeutung damit zu tun, dass man sich aus einer Situation befreit, in der man steckengeblieben ist, dass man buchstäblich aus ihr »heraustritt.« In der Shamatha-Praxis entdecken wir, wie tief unser Geist in den Doppelfurchen von Laschheit und Erregung feststeckt. In der buddhistischen Tradition heißt es, dass ein in diesen Geleisen festsitzender Geist gestört ist, nicht richtig funktioniert, und dass es gilt, ihn uns dienstbar zu machen. Da hilft es uns, wenn wir aus unseren normalen Aktivitäten »heraustreten«, uns in einen inneren Raum der Weite und Einsamkeit begeben und das Grenzland des Geistes erforschen.
Diese Expedition verlangt weder blinden Glauben noch die Anbindung an irgendeine religiöse Konfession oder ein metaphysisches Glaubenssystem. In den letzten drei Jahrtausenden sind Kontemplative verschiedenster asiatischer Kulturen mit unterschiedlichen Glaubenssystemen dem Shamatha-Pfad bis zu seinem Gipfelpunkt gefolgt und haben über ihre Funde berichtet. Wir brauchen ihre Behauptungen nicht einfach aufgrund der ihnen zugesprochen Autorität zu akzeptieren. Sollten uns aber solche früheren Berichte über die Vorzüge dieser Praxis eine Inspiration sein, dann begeben wir uns vielleicht auf diesen Pfad, um selbst herauszufinden, ob wir zu den Resultaten der uns vorausgegangenen kontemplativen Forscher gelangen können. Es warten große Abenteuer auf uns, aber auch Gefahren und Sackgassen. Manchmal liegt der Weg klar vor uns, aber ab und zu scheint er auch ganz zu verschwinden. Zeitersparnis ist der Grund, warum wir uns auf die verlassen, die diesen Weg aus eigener Erfahrung kennen. In vielen indischen und tibetisch buddhistischen Meditationshandbüchern werden sechs Vorbedingungen für ein anhaltendes rigoroses Training genannt. 23 Diese gehören unter anderem zu den Ursachen und Bedingungen, welche die Frucht von Shamatha hervorbringen werden.
1. Ein unterstützendes Umfeld
Wichtig ist, dass wir an einem geschützten, ruhigen, annehmbaren Ort, optimalerweise mit ein paar anderen gleichgesinnten Menschen, praktizieren. Es sollte außerdem ein Ort sein, wo man leicht an Essen, Kleidung und andere Notwendigkeiten kommen kann. Theoretisch gesehen hört sich das Auffinden einer solchen Umgebung leicht an, praktisch gesehen kann es sich aber äußerst schwierig gestalten, vor allem wenn Sie sich monatelang durchgängig dem Praktizieren widmen wollen.
Das musste ich damals 1980 in eigener Erfahrung feststellen. Ich hielt mich in Indien auf und war in eine Hütte eingezogen, um mich in der Einsamkeit der Meditation zu widmen. Von außen gesehen wirkte alles sehr idyllisch. In der nordindischen Region auf dem Felssims eines Berges gelegen, schaute man in Richtung Süden auf das fruchtbare Kangra-Tal hinab und in nördlicher Richtung blickte man auf das Himalajagebirge. Dort zu leben war ein Segen, aber ich hatte es auch mit Heerscharen von Wanzen zu tun, die jede Nacht in meinen Schlafsack einfielen und mir sogar auch untertags, wenn ich in Meditation saß, unter die Robe krochen, um sich an meinem Blut gütlich zu tun. Als buddhistischer Mönch ließ ich sie am Leben, wenn ich sie fing. Jede Nacht erwachte ich so gegen zwei und meine Haut war mit Wanzenbissen übersät, die alle wie hundert Moskitostiche juckten. Dann sammelte ich die Viecher in einem Metallbecher, aus dem sie nicht herauskamen, und kippte am Morgen die nächtliche Ausbeute einen Abhang hinunter. Den krabbelten sie dann wieder hinauf und bereiteten sich auf die nächste nächtliche Invasion vor. So ging das zwei Monate lang weiter, bis ich entdeckte, wie ich sie von meinem Schlafsack fernhalten konnte. Ich breitete ihn auf einem Podest aus, dessen Pfosten jeweils in einer mit Wasser gefüllten Dose standen. Trotz dieser schließlich erfolgreichen Abwehr der Wanzeninvasionen musste ich mich aber noch weiter mit Flöhen, Moskitos und Ratten herumschlagen, sowie mit dem Schimmel, der sich kurz nach dem Einsetzen der Monsunzeit überall ausbreitete. Vier Jahre Meditationsretreat, zwei davon in Asien und zwei in Nordamerika, ließen mich zu der Schlussfolgerung gelangen, dass sich ein passendes Umfeld nur schwer finden
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