Die Achtsamkeits-Revolution
Praxis ist es entscheidend, dass Sie die Bewegung der Gedanken beobachten, ohne einzugreifen. Das ist ein essenzieller Aspekt der für die im Verlauf dieses Prozesses einsetzenden natürlichen Heilung des Geistes.
BETRACHTUNGEN ZUR PRAXIS
Achtsamkeit und kontemplative Einsicht
Die Praxis des Den-Geist-in-seinem-natürlichen-Zustand-zur- Ruhe-Bringens entspricht so ziemlich der psychologischen Beschreibung der Achtsamkeit, die an früherer Stelle (siehe Stufe 4) erklärt wurde als »eine Art vage gehaltenes, urteilsfreies, auf die Gegenwart gerichtetes Gewahrsein, bei dem alle jeweiligen Gedanken, Gefühle oder Sinneswahrnehmungen, die im Gewahrseinsfeld auftauchen, so akzeptiert werden, wie sie sind.« 68 Diese Beschreibung spiegelt die Darstellung von Achtsamkeit wieder, wie sie in der heutigen Vipassana-Tradition vermittelt wird: Als eine Art »bloße Achtsamkeit« von Augenblick zu Augenblick oder ein nicht-haftendes Gewahrsein, das Wahrnehmungen und Erfahrungen weder etikettiert noch kategorisiert. Doch indische und tibetische buddhistische Kontemplative betrachten diese Praxis des Den-Geist-in-seinem-natürlichen-Zustand-zur-Ruhe-Bringens als eine spezielle Technik zur Entwicklung von Shamatha und nicht von kontemplativer Einsicht oder Vipashyana.
Bhante Gunaratana, der hier für die zeitgenössische Vipassana- Tradition spricht, sagt aus, dass Samadhi oder meditative Konzentration »als die Fähigkeit des Geistes definiert werden könnte, die den Fokus ohne Unterbrechung einspitzig auf ein Objekt gerichtet hält«. Und er beschreibt Achtsamkeit als die Fähigkeit, die »bemerkt, dass [...] Ablenkung stattgefunden hat, und es ist die Achtsamkeit, die die Aufmerksamkeit wieder zurücklenkt« 69 . Somit hat bei Gunaratana Konzentration die Funktion, die wir als Achtsamkeit bezeichnen, und hat Achtsamkeit die Funktion, die wir der Selbstbeobachtung zugeschrieben haben. Es mag hilfreich sein, diese terminologischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Traditionen zur Kenntnis zu nehmen, ohne jedoch eine große Geschichte daraus zu machen. Und vielleicht lohnt es sich auch zur Kenntnis zu nehmen, dass den hier zitierten klassischen Texten zufolge die auf den Bereich des Geistes angewandte Shamata-Pra- xis des bloßen Gewahrseins nur eine zeitweilige Linderung von solchen Leid verursachenden Geisteszuständen wir Begehren und Feindseligkeit zur Folge hat. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass die Praxis des bloßen Gewahrseins für sich allein genommen irgendwelche Geistesplagen unwiderruflich vertreibt.
Nach buddhistischer Tradition wird eine solche Befreiung durch die Praxis von Vipashyana oder Einsichts-Meditation erlangt, deren Frucht Weisheit ist. Eine Verwirklichung dieser Art beseitigt, wenn sie mit der außergewöhnlich gefestigten Achtsamkeit und Klarheit von Shamatha verschmolzen wird, die Unwissenheit und Verblendung, welche die Wurzeln des Leidens bilden. Wenn jedoch unsere Vipashyana-Praxis nicht durch die Erlangung von Shamatha unterstützt wird, wird keine Verwirklichung, kein Erwachen oder keine Transformation von Dauer sein und wir werden uns nie über die Wunden menschlichen Schmerzes erheben. Die aus der Vereinigung von Shamatha und Vipashyana hervorgehende Befreiung enthebt uns in keiner Weise der Realität der
Veränderlichkeit. Auch der Buddha wurde alt und starb. Aber die Freiheit, die der Buddha und alle gewannen, die seinem Pfad der Befreiung bis zu seinem Gipfelpunkt folgten, hat ihren Geist unwiderruflich von Begehren, Feindseligkeit und Verblendung und dem sich daraus ergebenden Leiden geheilt. Alles, was weniger ist, verdient nicht die Bezeichnung »Nirvana«.
Im Rahmen des buddhistischen Edlen Achtfachen Pfades sind rechte Anstrengung, rechte Konzentration und rechte Achtsamkeit die Hilfen für das Kultivieren von Samadhi. Rechtes Denken und rechte Anschauung sind die essenziellen Elemente des Achtfachen Pfades, die es zur Kultivierung von Weisheit braucht. Auch das verweist darauf, dass Achtsamkeit allein nicht ausreicht, um den Geist völlig von seinen Leid verursachenden Neigungen zu befreien. Um die zu echter Freiheit führende Einsicht zu erlangen, muss man sich in großer Klarheit des Denkens üben, muss man sich solcher Auffassungen und Sichtweisen wie der buddhistischen bedienen und nicht anders als Wissenschaftler beim Durchführen von Experimenten mit Hypothesen arbeiten. Die Meditationspraxis, die sich auf keinerlei Sicht oder Hypothese bezieht, ist ebenso
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