Die Achtsamkeits-Revolution
für ein solches Ich oder Selbst oder als diesem zugehörig.
Indem wir uns achtsam und scharfsichtig allen Arten von der Wahrnehmung zugänglichen - materiellen, mentalen und sonstigen — Erscheinungen zuwenden, können wir allmählich zwischen unseren scheinbar unmittelbaren Sinneswahrnehmungen und -erfahrungen und unseren gedanklichen Projektionen unter-
scheiden. Und auf diese Weise entdecken wir nach und nach das Ausmaß der illusorischen Natur unserer Erfahrungen im Wachzustand. Doch reicht die traumähnliche Natur unserer Erlebniswelt noch sehr viel tiefer als das. In den Sutren über die Vollkommenheit der Weisheit stellt der Buddha die noch radikalere Behauptung auf, dass die Welt unserer Erfahrungen im Wachzustand im Grunde nicht realer ist als ein Traum. In einem nicht- luziden Traum greifen wir irrtümlicherweise nach allen objektiven und subjektiven Erscheinungen, so, als wären sie von sich aus real, als hätten sie eine immanente Eigenexistenz. Und im normalen (nichtluziden) Wachzustand machen wir genau das Gleiche und stellen uns vor, dass die stoffliche Welt wirklich »da draußen« ist und unabhängig von unseren gedanklichen Konstrukten existiert. Wir greifen nach unseren Gedanken und anderen subjektiven Erfahrungen, so, als seien sie wirklich »hier drinnen« und existierten durch ihre ihnen innewohnende Eigennatur. Philosophisch ausgedrückt, verdinglichen, vergegenständlichen wir alles, was wir im Wachen und im Schlaf erleben — oder verleihen ihm in unseren Projektionen eine substanzielle, unabhängige Existenz.
Alle buddhistischen philosophischen Richtungen kennen das Problem, dass man eine Welt zu ergründen sucht, die vermeintlich unabhängig vom Geist existiert, der sie zu verstehen bestrebt ist. 80 Der Philosophie des Mittleren Weges oder des Madhyamika zufolge — die für die klassische buddhistische Philosophie das ist, was Einsteins Relativitätstheorie für die klassische Physik bedeutet -, kann man die Realität nur in Bezug auf spezifische kognitive Bezugssysteme verstehen. 81 Subjekt und Objekt befinden sich immer in Wechselbeziehung, und das eine kann ohne das andere nicht existieren, was eine Art universelle, ontologische Relativität impliziert. So wie Einstein die Vorstellung vom absoluten Raum verwarf, verwerfen die Anhänger des Madhyamika oder Verfech
ter des Mittleren Weges sowohl die Existenz einer absolut objektiv gegebenen Welt der Materie wie auch die Vorstellung von einem absolut subjektiven Geist. Unsere Vorstellungen von Subjekt und Objekt und von Geist und Materie sind allesamt vom menschlichen Intellekt geschaffene Konstrukte und haben keine von ihrem begrifflichen Bezugsrahmen unabhängige Bedeutung.
Aus der Sicht des Madhyamika existieren alle bekannten Objekte in Abhängigkeit von den von Wahrnehmung und Konzeption bestimmten Bezugsrahmen, durch die sie erkannt werden. Die Farbe Rot existiert nicht unabhängig von ihrer visuellen Wahrnehmung, und keine der von der Mathematik und den Naturwissenschaften postulierten Entitäten - von der nichteuklidischen Geometrie bis hin zu den Superstrings und den galaktischen Clusters - existiert unabhängig vom Geist, der auf sie kam. Phänomene werden buchstäblich in Abhängigkeit von unseren jeweiligen begrifflichen Festlegungen ins Dasein gebracht.
Phänomene besitzen dem Anschein nach eine eigenständige Existenz, existieren dem Anschein nach in Unabhängigkeit von unseren Bezugsrahmen, und verblendet greifen wir nach ihnen so, als existierten sie ganz genau so, wie sie für uns in Erscheinung treten. Aber das erhält einfach nur die traumähnliche Natur aller möglichen Arten der Erfahrung aufrecht. Wenn Sie in einem Traum luzide werden, erkennen Sie allmählich, dass die Dinge nicht so sind, wie sie zu sein scheinen, und nun besteht die Herausforderung darin, dass Sie das Ausmaß erkennen, in dem die Dinge im Wachzustand nicht realer sind als im Traum.
DIE PRAXIS DES TRAUM-YOGA BEI TAGE
An diese Praxis des Traum-Yoga bei Tage kann man zunächst aus der Sicht der klassischen buddhistischen Philosophie und anschließend auf der Grundlage des Mittleren Weges herangehen. Nehmen Sie, bei genauer Anwendung der Achtsamkeit, alles als Ihre »Traumzeichen«, was Ihnen dauerhaft, absolut befriedigend und einem unabhängig existierenden Selbst zugehörig zu sein scheint. Werden Sie wach für die Tatsache, dass Sie Ihre gedanklichen Projektionen mit den unmittelbaren Wahrnehmungsund Erfahrungsinhalten
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