Die Achtsamkeits-Revolution
Verwirklichung der Leerheit, der absoluten Natur der Phänomene, führen kann. Und Padmasambhava führt bei seiner Erläuterung der Shamatha-Praxis ohne ein Zeichen an, dass der Meditierende dabei sogar das reine ursprüngliche Gewahrsein auszumachen vermag. Man muss jedoch hervorheben, dass eine wie immer geartete Shamatha-Praxis nur in seltenen Fällen direkte Einsicht in die Leerheit oder ins reine ursprüngliche Gewahrsein gewährt. Sinn und Zweck der Shamatha-Meditation bestehen darin, die Stabilität und wache, scharfe Klarheit der Achtsamkeit zu entwickeln oder zu enthüllen. Das ist so, wie wenn man ein Teleskop für die präzise durchdringende Beobachtung der mentalen Phänomene, einschließlich der Natur des Bewusstseins selbst, entwickelt. So gesehen kann Shamatha als »kontemplative Technolo
gie« betrachtet werden, wohingegen die Vipashyana-Praxis eine Art »kontemplative Wissenschaft« ist. Diese Reihenfolge von Shamatha und Vipashyana macht absolut Sinn: Kultiviere und verfeinere erst deine Kräfte und Fähigkeiten der Achtsamkeit; nutze sie dann, um den Geist zu erforschen, zu reinigen und zu läutern, denn der Geist kann nur durch Beobachtung aus erster Hand direkt untersucht werden.
Der Buddha hebt diese Reihenfolge unzählige Male hervor, zum Beispiel wenn er die Frage stellt: »Worin, ihr Mönche, besteht die ausreichende Bedingung zur Erkenntnis und Schau der Dinge, so wie sie wirklich sind?« Und er antwortet: »Die Antwort sollte lauten: >Konzentration< (Samadhi)«. 86 Kamalashila bezieht sich auf das gleiche Thema, wenn er schreibt: »Weil der Geist sich wie ein Fluss bewegt, bleibt er nicht ruhend, wenn er nicht in stiller Unbewegtheit gegründet ist. Der Geist, der nicht fest im Gleichgewicht ruht, ist unfähig, die Wirklichkeit zu erkennen. Auch der Buddha erklärte: >Der Geist, der im Gleichgewicht gegründet ist, erkennt die Wirklichkeit so wie sie ist.«< 87 Und Shantideva spricht für die gesamte Mahayana-Tradition, wenn er erklärt: »Die von geistiger Ruhe (Shamatha) durchtränkte Klarheit überwindet die Leiden schaffenden Emotionen vollständig; dies wissend, sollten wir zuerst nach geistiger Ruhe suchen.« 88
Im tibetischen Buddhismus werden viele Schüler die Vorbereitenden Übungen (Ngöndro) auf die tantrische Meditation gelehrt und aufgefordert, sich auf diese zu konzentrieren, bis sie sie vollendet haben. Das lässt die Frage aufkommen, ob es besser ist, erst Shamatha zu erlangen und sich dann diesen Vorbereitenden Übungen zu widmen oder umgekehrt. Wenn man erst Shamatha erlangt, hat das den Vorteil, dass man die kultivierte verfeinerte Achtsamkeit auf die Vorbereitenden Übungen anwenden und so die Wirksamkeit dieser Übungen enorm steigern kann. Vollendet man hingegen erst die Vorbereitenden Übungen, reinigt und läu
tert das den Geist, sodass man bei der Shamatha-Praxis auf weniger Hindernisse stößt. Der verstorbene Kalu Rinpoche, ein berühmter und hoch angesehener Meditationsmeister der Kagyü- Tradition, gab die Antwort, dass das Erlangen von Shamatha von essenzieller Bedeutung ist, dass aber beide oben genannten Abfolgen möglich sind, für die man sich je nach persönlicher Neigung entscheiden kann. 89
Angesichts des breiten Konsens hinsichtlich der entscheidenden Rolle, die Shamatha im Kontext der buddhistischen kontemplativen Praxis zukommt, könnte man erwarten, dass es auch weithin praktiziert wird und viele Leute es erlangen. Merkwürdigerweise gab es unter den tibetisch buddhistischen Kontemplativen aber lange die starke Tendenz, Shamatha zugunsten fortgeschrittener Praxisübungen eine nur marginale Rolle zuzuweisen. Tsongkhapa kommentierte im fünfzehnten Jahrhundert diese Vernachlässigung, als er sagte: »Nur sehr wenige scheinen auch nur Shamatha zu erreichen.« 90 Und Düdjom Lingpa ließ vier Jahrhunderte später verlauten: »Unter den unkultivierten Leuten in diesem degenerierten Zeitalter scheinen nur sehr wenige mehr als eine flüchtige Stabilität zu erreichen.« 91
Im Verlauf zahlreicher Unterhaltungen mit erfahrenen Einsiedlern und mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama habe ich herauszufinden versucht, ob diese Aussage auch auf die heutige Zeit zutrifft. Man ist sich darin einig, dass heutzutage das wirkliche Erlangen von Shamatha unter sowohl in Tibet wie auch im Exil lebenden tibetischen buddhistischen Kontemplativen nicht gänzlich unbekannt, aber außerordentlich selten ist.
Der auf Sri Lanka lebende Theravada-Gelehrte und
Weitere Kostenlose Bücher