Die Achtsamkeits-Revolution
ZUR PRAXIS
Während alle Schulen des tibetischen Buddhismus der gleichen grundlegenden philosophischen Sichtweise anhängen, bildet das Verständnis des uranfänglichen Bewusstseins oder des klaren Lichts ursprünglichen Gewahrseins (primordial consciousness) einen Bereich anhaltender Debatte. Der Unterschied liegt darin begründet, ob man das erleuchtete Bewusstsein als etwas ansieht, das man kultivieren, also entwickeln, entfalten und pflegen muss, oder ob es etwas ist, dass es bloß zu entdecken gilt. Eine Debatte, die implizit praktische Auswirkungen auf die Achtsamkeits-Meditation hat.
Die mit den Nyingma- und Kagyü-Orden des tibetischen Buddhismus am stärksten verbundenen Dzogchen- und Mahamu- dra-Traditionen sehen das reine ursprüngliche Gewahrsein als einen vollkommen erleuchteten Bewusstseinszustand an, der schon vorhanden, aber von Leid verursachenden Geisteszuständen und anderen Verdunkelungen verschleiert ist. Da man davon ausgeht, dass alle Qualitäten des uranfänglichen Bewusstseins oder der Buddha-Natur dem gewöhnlichen menschlichen Bewusstsein innewohnen, glaubt man auch, dass auch die außergewöhnlich hohen Achtsamkeitsgrade meditativer Festigung der eigentlichen Natur des Gewahrseins inhärent sind. Letztlich müssen diese Qualitäten nicht entwickelt werden; sie warten darauf, entdeckt zu werden, und die oben dargelegte Praxis zielt genau darauf ab.
Die Gelug- und Sakya-Orden des tibetischen Buddhismus sehen im Allgemeinen die Buddha-Natur als unser Potenzial zum Erlangen der Erleuchtung an. Der Geist muss aber in verschiedener Hinsicht entwickelt werden, um die unermesslichen Qualitäten der Weisheit, des Mitgefühls und der Kreativität eines Buddha erlangen zu können. So legen die Gelug- und Sakya-Orden üblicherweise auch Nachdruck auf Shamatha-Techniken, die durch
ein Fokussieren des Geistes auf »Zeichen« oder Meditationsobjekte auf die Entwicklung von Stabilität und Wachheit, Schärfe und Klarheit abzielen.
Doch ebenso wie Lamas der Nyingma- und Kagyü-Tradition häufig eine Vielfalt von Shamatha-Techniken lehren, die sich der Zeichen bedienen, erkennen Lamas der Gelug- und Sakya-Tradi- tion den Wert eines Praktizierens von Shamatha an, bei dem man das Gewahrsein in seiner eigenen Natur ruhen lässt. Von daher sollten diese Unterschiede nicht allzu starr aufgefasst werden. Tsongkhapa, der im fünfzehnten Jahrhundert den Gelug-Orden begründete, beschreibt diese Praxis folgendermaßen:
Fasse beim Kultivieren von einfacher, nicht denkender Achtsamkeit, ohne Fokussierung auf irgendein Objekt wie etwa eine Gottheit, den Entschluss: »Ich will den Geist, ohne über irgendein Objekt nachzudenken, zur Ruhe kommen lassen.« Dann vermeide Ablenkung und lass nicht zu, dass sich die Achtsamkeit zerstreut. 83
Der Erste Panchen Lama, der auch dem Gelug-Orden angehörte, beschreibt die Praxis auf diese Weise:
Widerstehe jeglicher Ideenbildung, und es werden jedes Mal, wenn du die Natur irgendeiner aufsteigenden Ideenbildung beobachtest, diese Gedanken von allein verschwinden, gefolgt von einer aufscheinenden Leere. Ebenso wirst du, wenn du den Geist in einem Zustand ohne Schwankungen untersuchst, eine unverhüllte, klare und leuchtende Leere sehen ohne irgendeinen Unterschied zwischen ersterem und letzterem Zustand. Unter Meditierenden wird dies als »die Verschmelzung von Stille und Auflösung« bezeichnet und begrüßt. 84
Und schließlich erklärt der verstorbene Sakya-Meister Deshung Rinpoche in seiner Besprechung der Frage »Ist es >natürlich< nicht natürlich zu sein?« diese Technik folgendermaßen:
Meditiere wie folgt: Sitze in der korrekten Meditationshaltung und sei so natürlich wie möglich. Bleibe in der Gegenwart, fokussiere dich weder auf die Vergangenheit noch auf die Zukunft. Wenn du so sitzt, wirst du sehen, dass es »natürlich« ist, nicht natürlich zu sein. Gedanken steigen auf. Der entscheidende Punkt ist der, dass du diesen Gedanken nicht zum Opfer fällst. Lass sie einfach vorbeiziehen und ruhe im Klarheitsaspekt des Geistes. Auf diese Weise wirst du schließlich Einsicht erlangen. In der Folge wirst du diese Einsicht auf stabile Art entwickeln und sie beibehalten, auch wenn du mit anderen Aktivitäten befasst bist. Ab diesem Punkt wird das Gefühl von der Leerheit aller Phänomene dich immer begleiten. 85
In dieser seiner Beschreibung der Praxis des Verweilens im Klarheitsaspekt des Geistes behauptet Deshung Rinpoche, dass diese Praxis zur
Weitere Kostenlose Bücher