Die Ahnen der Sterne: Roman (German Edition)
Unsicherheit. Etwas Schwarzes fegte heran, etwas Silbriges blitzte, und der grüne Eindringling zersprang in vier ungleiche Teile, die sich im nächsten Moment neu gruppierten. Jetzt hatte sie es mit vier Gegnern zu tun, nicht nur mit einem. Sie rückten paarweise vor, doch der Neuankömmling ließ nicht locker. Die Schwärze entfaltete sich wie ein Flügel und wehrte zwei grüne Angreifer ab, während ein anderer Teil des pechschwarzen Gebildes einen Tentakel mit vibrierenden Klingen ausbildete. Einer der kleinen grünen Gegner wurde in Scheiben zerlegt, der andere wich aus und flog Julia geradewegs entgegen.
Aus der kalten, gedämpften Angst, die sie empfand, erwuchs unvermittelt Zorn. Sie schlug mit etwas Hellem, Scharfem zu. Der Angreifer zersprang in mehrere kleine Teile, die sich augenblicklich nach dem Vorbild ihrer Vorgänger wiederherzustellen suchten. Nach einem zweiten Hieb mit ihrer Waffe zweifelhafter Herkunft blieb nur noch eine kleine Wolke schimmernder Fragmente zurück. Jetzt war sie allein mit dem dunklen Gebilde, einer wogenden Ansammlung schwarzer Kurven und Falten. Sie wurde von leichter Nervosität erfasst.
»Wie interessant – ein fraktalisiertes organisches Wesen ohne jede Org, dem Datenfluss nackt ausgeliefert, eine schmackhafte Beute für Räuber wie diesen Moger.«
»Ich heiße Julia«, dachte sie und hoffte, sie werde gehört.
»Aha! – Noranglik, ich hab’s gewusst! Dann stammen Sie bestimmt von Darien, der Koloniewelt.«
»Was ist ein Moger?«
»Und Sie wirken ausgesprochen gefasst. Das ist schon eine Leistung für einen Menschen, der aus seiner leiblichen, atmenden und stoffwechselnden Existenz herausgerissen wurde – in meiner kurzen Zeit im Fluss bin ich schon einigen fraktalisierten Wesen begegnet, und für gewöhnlich zerbrechen sie unter dem Stress. Und zwar buchstäblich.«
»Moger«, sagte sie. »Und Org.«
»Und Sie lassen sich auch nicht so leicht ablenken«, sagte das schwarze Enigma. »Na gut – Moger sind die Ratten-Schakale-Kakerlaken im Fluss, Räuber mit kaum einem Meg AI, weshalb man sie leicht auflösen kann, wenn man weiß, wie man’s anstellen muss. Der hier war ein Umschreibe-Moger – hätte er Sie zu fassen bekommen, hätte er Sie in einen Schwarm von Kopien umgewandelt. Aber die Pestvariante ist schlimmer.
Orgs helfen uns Intelligenzen, im Fluss am Leben zu bleiben. Sie verschaffen uns einen kleinen Überlebensvorteil. Ich habe noch ein paar Erbversionen von mir, die Sie haben können – ich empfehle Ihnen sogar dringend, sie anzunehmen, vorausgesetzt, Sie legen Wert aufs Überleben.«
Julia steckte in der Zwickmühle, denn sie wusste nicht, ob ihr Gesprächspartner es aufrichtig mit ihr meinte, oder ob er auch nur ein Räuber war. Überall lauerten Gefahren.
»Was würden die Orgs mit mir anstellen?«, fragte sie.
»Das ist einfacher zu zeigen als zu erklären«, erwiderte das Enigma. »Ich schicke Ihnen erst mal einen Visualisierer. Damit können Sie mehr erkennen als das elementare Analogon, und Sie können jedes gewünschte Exter annehmen.«
Ein zarter Faden wölbte sich anmutig aus der Oberseite des langsam wogenden schwarzen Wesens hervor und senkte sich auf den Rand von Julias Nische herab. Ein Lichtpunkt folgte ihm, landete und verschwand.
»Die Autoeinbettung geht problemlos vonstatten. Sie werden den Unterschied gleich sehen.«
Ihre Umgebung erzitterte kurz, dann wurde alles von einer Welle der Verwandlung erfasst. Die Transformation war so drastisch und unerwartet, dass sie zurückschreckte und nur mit Mühe das Gleichgewicht wiedererlangte … denn sie stand – sie stand tatsächlich! – an einer Straßenecke. In den dunklen Häusern waren ein paar Fenster trüb erleuchtet, doch als sie den Blick noch weiter in die Höhe richtete, verblasste das Stadtbild und verschmolz mit dem vielfarbigen, polyedrischen Datenraum, den sie bereits kannte.
Dann trat eine Gestalt ins Licht, ein Mann mit einem langen, schwarzen, bis zum Hals zugeknöpften Mantel und einem altmodischen Hut mit Krempe. Aufgrund seiner Haltung strahlte er Jugendlichkeit, aber auch Reife aus, und sein Lächeln wirkte mehr als belustigt.
»Hallo, Julia – ich heiße Harry.« Er streckte die Hand aus und zeigte erst auf ihren Kopf und dann auf ihre Füße. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich mir die Freiheit herausgenommen habe, einen Exter für Sie zu laden. Ich denke, damit werden Sie besser zurechtkommen. Er simuliert einen Körper mitsamt der
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