Die Ahnen von Avalon
verbissen«, sagte eine leise, belustigt klingende Stimme hinter ihr. »Hast du vergessen, was du gelernt hast? Eilantha… atme aus… atme ein… öffne deine Innensicht… und schaue…«
Seit ihrer Kindheit hatte niemand mehr die Autorität besessen, ihr eine bestimmte Art der Wahrnehmung zu befehlen; doch bevor es Tiriki einfiel, sich zu widersetzen, gehorchte sie und sah die Bäume und Wiesen, die schimmernden Ebenen und Täler.
Benommen drehte sie sich um und gewahrte die Energieströme, die den Gipfel des Heiligen Bergs umflossen, eine Schwindel erregende Spirale, die bis zum Himmel hinauf kreiste. Tiriki nahm die Hand vors Gesicht und sah, dass auch sie selbst in Licht getaucht war.
»Warum bist du so überrascht?« Sie vermochte nicht zu sagen, ob der Gedanke aus ihrem Innern oder von außen kam. »Wusstest du denn nicht, dass du ebenfalls Teil dieser Welt bist?«
Das stimmte offenkundig. Tiriki war sich gleichzeitig ihrer eigenen Existenz bewusst als auch eines unendlich verzweigten Lichtgeflechts, dessen Schichten von einer Dimension in die nächste reichten und jede Daseinsform umfassten - von der reinen Seele bis zu Gestein und Staub. Sie spürte Alyssas unordentlichen Geist in Form eines Funkengestöbers, Chedans beständiges Glühen, das von Glauben und Macht herrührte, sowie Iriels helles Flackern, deren Seelenfunke dem von Otter so nahe war, dass die beiden beinahe eine Einheit bildeten.
Die Macht des Heiligen Berges durchzog die Landschaft in Form gekräuselter Lichtstreifen. Tirikis Erregung nahm zu, während sie ihre Sinne aussandte, denn hier, wo alle Daseinsebenen vereint waren, würde sie sicher Micail finden.
Und dann berührte sie seinen Geist. Doch nur für einen kurzen Augenblick, denn die Flut der Gefühle war zu stark, und Tiriki sank schwindelnd in ihren Körper zurück - oder vielmehr in die Gestalt, die ihr Körper hier angenommen hatte; ihr Fleisch leuchtete wie das der Frau, die sie jetzt vor sich stehen sah, in Licht gewandet, von Sternen gekrönt.
»Micail lebt!«, rief Tiriki aus.
»Alle Dinge leben«, kam die Antwort, »Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft - jedes auf seiner eigenen Ebene.«
Unter den lederartigen Blättern unbekannter Pflanzen bewegten sich unheimliche Gebilde; doch auch Eis bedeckte die Welt, und nichts wuchs. Sie sah den Heiligen Berg gleichzeitig von Bäumen bestanden wie auch kahl, einen Hang mit kurz geschnittenem Gras, gekrönt von aufrecht stehenden Steinen, und auch ein seltsames Bauwerk aus Stein, das im selben Augenblick zusammenfiel und von dem nur noch ein Turm zurückblieb. Sie sah in Fell gekleidete Leute und solche in blauen oder vielfarbigen Gewändern; und Gebäude, Felder und Weiden, die das Bild der ihr bekannten Sumpflandschaft überlagerten. Ihre Wahrnehmungen waren überwältigend, und sie hatte bald das Gefühl, gar nichts zu wissen.
»All das ist wirklich«, erklärte die Stimme in ihrem Geist. »Jedes Mal, wenn du eine Wahl triffst, verändert sich die Welt, und eine andere Ebene offenbart sich dir.«
»Wie soll ich Micail finden?«, schrie Tirikis Geist auf. »Wie soll ich dich finden?
»Folge einfach der Spirale, aufwärts oder abwärts…«
»Herrin, geht es Euch gut?«, erkundigte sich eine Männerstimme.
»Tiriki! Was macht Ihr denn hier?«
Die Stimmen verflossen ineinander, zwar deutlich unterscheidbar, doch in harmonischem Gleichklang. Tiriki öffnete die Augen und stellte fest, dass sie im Gras lag, innerhalb des Steinkreises auf der Kuppe des Heiligen Berges. Sie richtete sich mühsam auf und blinzelte in die aufgehende Sonne.
»Seid Ihr auch die ganze Nacht draußen herumgewandert?« Eine stämmige Gestalt, die sie als Reidel erkannte, reichte ihr die Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein.
»Herumgewandert bin ich, in der Tat«, antwortete Tiriki benommen, »aber wo?«
»Herrin?«
»Lass nur…« All ihre Glieder waren steif, doch obwohl das dichte Gras feucht von Tau war, war ihre Kleidung fast trocken. Erneut sah sie sich blinzelnd um und verglich das Bild, das sich ihr bot, mit ihren Erinnerungen.
»Sie kommt mir irgendwie benebelt vor«, sagte Damisa mit einem verärgerten Unterton. »Am besten bringen wir sie so schnell wie möglich den Berg hinunter.«
»Kommt, Herrin«, sagte Reidel sanft, »Ihr könnt Euch an mich lehnen. Wenn wir auch leider immer noch nicht wissen, wo Iriel ist, so haben wir zumindest Euch gefunden.«
»Iriel ist in Sicherheit…« Tirikis Stimme war ein Krächzen, und
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