Die Akte Golgatha
du wirklich, dass ich dich allein lasse?«, rief Francesca entrüstet. »Aber wir sollten uns beeilen. In einer Stunde wird es dunkel.«
Francescas Mut überraschte Gropius in keiner Weise, und fraglos hatte er ihre Reaktion sogar erhofft, ja erwartet. Er hätte es nie zugegeben, aber Gropius hatte Angst. Allein der Gedanke an seine Gefangenschaft in dem einsamen Gehöft ließ ihn erschauern. Francesca sollte nicht sehen, dass seine Hände zitterten; deshalb vergrub er sie in den Taschen.
»Hast du keine Angst?«, fragte er, um sich selbst Mut zu machen.
»Angst? Ach was. Angst ist der Auslöser für große Taten. Also, worauf warten wir noch?«
Der Abstieg talwärts war beschwerlich, weil von der Seite, auf der sie sich befanden, kein Weg, nicht einmal ein Trampelpfad, zu dem alten Landgut führte. Nach zwanzigminütigem Fußmarsch erreichten sie endlich ihr Ziel. Sie hatten kein Wort darüber verloren, was sie eigentlich vorhatten und was sie den Bewohnern des Gehöfts sagen sollten. Gropius fühlte sich nur von jenem unerklärlichen Zwang getrieben, der ihn seit Monaten verfolgte.
Das Gehöft bestand aus mehreren Gebäuden und versteckte sich hinter wild wucherndem Buschwerk. Und obwohl sich noch keine Blüten zeigten, stieg Gropius plötzlich derselbe penetrante Duft von Ginster in die Nase, den er damals wahrgenommen hatte.
Eine Mauer aus rohen Steinen, nicht höher als zwei Meter, umgab das verwunschene Anwesen. Auf der Suche nach dem Eingang gingen sie um das Gehöft herum und stießen auf einen Weg, der, von hölzernen Strommasten gesäumt, auf die Anhöhe führte. Er endete vor einem zweiflügeligen Holztor, in das ein kleiner Durchlass eingearbeitet war. Eine Kette mit einem eisernen Handgriff führte ins Innere. Gregor zog kräftig, und aus einiger Entfernung vernahm man den gedämpften Bimmelton einer Glocke.
Durch einen Spalt in dem Tor, das aus rohen, verwitterten Bohlen konstruiert war, blinzelte Gregor in einen Innenhof, in dem eine schwarze Limousine älterer Bauart parkte. Im Hintergrund schlug ein Hund an, sonst kein Lebenszeichen.
Gropius schellte ein zweites Mal, noch heftiger als beim ersten Versuch; aber auch diesmal kam keine Reaktion. Schließlich übernahm Francesca die Initiative, zog sich mit bloßer Muskelkraft auf die Mauerkrone, und noch ehe sich Gropius versah, war sie auf der anderen Seite verschwunden. Dort schob sie den Riegel der in das Tor eingelassenen Tür beiseite und ließ Gropius ein.
Nichts regte sich. Der Hund, ein schwarzbrauner Pitbull, fletschte die Zähne und schoss, eine lange Kette hinter sich herziehend, auf sie zu.
»Keine Angst!«, meinte Francesca. »Ich kann mit Hunden umgehen.« Mutig und mit ausgestrecktem Arm trat sie dem tobenden Hund entgegen und redete beruhigend auf ihn ein, bis dieser sich winselnd in seinen Zwinger zurückzog.
»Wo hast du solche Kunststücke gelernt?«, fragte Gregor anerkennend.
»Ich bin mit Hunden aufgewachsen«, antwortete Francesca, »keine Bange!«
An drei Seiten des Hofes erhob sich je ein Gebäude, in der Mitte ein verhältnismäßig gut erhaltener Wohntrakt, die Trakte auf beiden Seiten wirkten verkommen. Der Eingang zu dem rechter Hand gelegenen Haus stand offen.
Mit einer Kopfbewegung forderte Gropius Francesca auf, ihm zu folgen. Im Eingang streifte sie der muffige Geruch von zweihundert Jahren. Ihre Tritte hallten in dem kahlen Gemäuer, und man konnte kaum etwas sehen. Durch eine halb geöffnete Tür fiel ein schmaler Lichtstrahl. Gropius vernahm ein leises Klicken und wandte sich um. Francesca hielt eine Pistole in der Hand.
»Bist du verrückt?«, zischte er.
Francesca legte den linken Zeigefinger auf die Lippen. Dann flüsterte sie: »Man weiß nie!«
In diesem Augenblick wurde Gropius von einem seltsamen Gefühl befallen. Die Frau mit der entsicherten Pistole hinter seinem Rücken erregte ihn ungemein.
»Ist da jemand?«, rief Francesca in die unheimliche Stille. Und als keine Antwort kam, drückte Gregor die Tür auf.
Vor ihnen lag ein quadratischer Raum mit zwei blinden Fenstern. In der Mitte stand ein klotziger Stuhl. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke. An den Wänden blätterte der blaugrüne Ölanstrich ab. Der Anblick traf Gregor wie ein elektrischer Schlag. »Francesca«, stammelte er atemlos, »das ist der Raum, in dem ich gefangen gehalten wurde.«
»Bist du sicher?«
»Absolut sicher. Ich erkenne alles genau wieder.«
»Mein Gott!« Francesca hielt die Pistole mit beiden Händen
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