Die Akte Nr. 113
Türen auf, die in den Korridor mündeten,
und ein Gerichtsdiener rief einen Namen oder eine Nummer.
Die Luft war so heiß und dunstgeschwängert,
daß Bertomy sich einer Ohnmacht nahe fühlte, als
endlich die Tür, neben der er saß, geöffnet
und sein Name gerufen wurde.
Er taumelte empor und stand auf einmal, er wußte
selbst nicht wie, im Zimmer des Untersuchungsrichters.
Da er aus dem finsteren Raume kam, war er von der Lichtflut,
die durch das der Tür gegenüber liegende Fenster
breit hereinströmte, so geblendet, daß er gar nichts
sah. Erst nach einigen Augenblicken sah er mitten im Zimmer einen mit
Akten bedeckten Tisch, hinter dem der Richter saß, zu seiner
Rechten stand an einem Schreibpult sein unentbehrlicher Gehilfe: der
Gerichtsschreiber.
Das Äußere des Untersuchungsrichters war ein
ungemein sympathisches, er hatte gütige milde Augen und um
seinen schöngeformten Mund lag ein Zug des Wohlwollens. Und in
der Tat war Herr Pertingent ein edler Charakter, so recht für
seinen schwierigen Beruf geschaffen, er besaß eine
unermüdliche Geduld, ließ sich durch keine
vorgefaßte Meinung beeinflussen und war von falschem Mitleid
ebenso weit entfernt, wie von übermäßiger
Strenge.
»Setzen Sie sich,« sagte der
Untersuchungsrichter. Prosper war von dieser Freundlichkeit angenehm
berührt, er hatte befürchtet, geringschätzig
behandelt zu werden; die Höflichkeit des Richters erschien ihm
als ein gutes Vorzeichen und gab ihm seine geistige Freiheit wieder,
ruhig und mit klarer Stimme beantwortete er die Fragen des
Untersuchungsrichters nach Namen, Alter, Stand, Wohnung und nur als er
über seine Familie befragt wurde, von seinem alten Vater und
der jungverheirateten Schwester sprach, zitterte seine Stimme merklich
und dem Richter entging diese Bewegung nicht.
Herr Pertingent blätterte eine Weile in seinen Akten,
dann hob er den Kopf und sagte plötzlich: »Man
beschuldigt Sie, Ihrem Chef 350 000 Frank entwendet zu haben.«
Seit vierundzwanzig Stunden mußte Prosper darauf
gefaßt sein, diese Anklage zu hören und doch, als der
Richter sie jetzt aussprach, schmetterte sie den Unglücklichen
derart nieder, daß er außerstande war, eine Silbe
hervorzubringen.
»Nun, was haben Sie darauf zu erwidern?«
fragte der Richter.
»Ich bin unschuldig, ich schwöre es Ihnen,
daß ich unschuldig bin!«
»Ich wünsche es um Ihretwillen, und ich
meinerseits werde gewiß nichts versäumen, was Ihre
Unschuld ans Licht bringen kann. Sie können sicherlich einige
Umstände zu Ihrer Verteidigung anführen, sprechen
Sie.«
»Ach Gott, was kann ich sagen? Es ist nur ja alles
völlig unbegreiflich. Ich kann mich nicht verteidigen, ich
kann mich nur auf mein ganzes Leben berufen ...«
Der Richter hieß ihn mit einer Handbewegung
innehalten.
»Sprechen Sie sich klar über die Sache aus.
Der Diebstahl ist unter Umständen ausgeführt,
daß der Verdacht nur Sie oder Herrn Fauvel treffen kann,
verhält es sich so?«
»Ja.«
»Folglich wäre, da Sie sich für
unschuldig ausgeben, Herr Fauvel der Täter?«
Prosper schwieg.
»Haben Sie einen Grund anzunehmen, daß der
Chef sich selbst bestohlen hat? Geben Sie ihn an, und wenn er noch so
geringfügig wäre, wir wollen ihn in Erwägung
ziehen.«
Und da Prosper noch immer schwieg, setzte der Richter
freundlich hinzu: »Wohl, ich sehe, Sie bedürfen noch
einiger Zeit des Nachdenkens, die sei Ihnen gewährt; jetzt
wird Ihnen mein Schreiber das Protokoll vorlesen, und wenn Sie
unterschrieben haben, werden Sie in Ihre Zelle
zurückgeführt werden.«
Nochmals ins Gefängnis zurück! Der
Unglückliche war wie vernichtet, er hörte gar nicht,
was ihm der Schreiber vorlas und unterschrieb, ohne zu sehen, denn es
flimmerte ihm vor den Augen. Als er aus dem Zimmer des
Untersuchungsrichters heraustrat, schwankte er so, daß der
Gefängniswärter ihn stützen und
führen mußte.
Prosper kam ganz gebrochen in seiner Zelle an. Er hatte
sprechen, sich verteidigen wollen und hatte es versäumt,
mußte weitere gräßliche Stunden warten, bis
er wieder vorgerufen würde. – Mutlos, verzweifelt
saß er da und gab sich verloren.
Unterdessen hatte der Untersuchungsrichter, Herr Pertingent,
den Bankier André Fauvel als Zeugen vorladen lassen.
So weich Fauvel vor Bertomys Verhaftung gestimmt gewesen, so
erbittert war er jetzt, und nachdem vor dem Untersuchungsrichter die
unvermeidlichen Vorfragen erledigt waren, erging
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