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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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enthielt
die
Verlobungsanzeige der Nichte des Bankiers André Fauvel mit dem
Marquis
Louis von Clameran.
    Die schreckliche Nachricht regte Prosper so auf, daß
er vollständig
den Kopf verlor, er vergaß sein Verduret gegebenes
Versprechen, sich
ruhig zu verhalten und ihm ganz zu vertrauen; er war nur von dem einen
Gedanken beseelt: die Heirat müsse hintertrieben, Magda aus
den Krallen
dieses Schurken befreit werden! Warten? Konnte, durfte er es? Wie, wenn
Verduret zu spät käme? Nein, Magda mußte um
jeden Preis gerettet werden!
    Prosper ließ sich vom Kellner Papier, Tinte und Feder
geben und ohne
zu bedenken, daß ein anonymer Brief immer eine Gemeinheit und
eine
Feigheit ist, schrieb er mit verstellter Schrift:
    »Herrn André Fauvel.
    Sie haben Ihren Kassierer dem Gerichte
überliefert,
weil Sie ihn für unredlich hielten. Aber, wenn Sie meinen,
daß er Ihre
Kasse beraubte, glauben Sie, daß auch er es war, der die
Diamanten
Ihrer Frau ins Leihhaus getragen? An Ihrer Stelle würde ich
die Sache
nicht wieder bei Gericht anzeigen, sondern vorher ein wenig meine Frau
überwachen, auch würde ich, aufrichtig gestanden,
fremden, plötzlich
dahergeschneiten Neffen etwas mißtrauen. Was aber den
ehrenwerten Herrn
Marquis von Clameran betrifft, so täten Sie vielleicht gut,
ehe Sie den
Heiratskontrakt Ihrer Nichte unterzeichnen, auf die Polizei zu gehen
und sich nach ihm zu erkundigen.
    Ein
Freund.«
    Nachdem der Brief geschrieben war, bezahlte Prosper eilig und
ging.
Es drängte ihn, sein Schreiben zur Post zu bringen und er
fürchtete, es
könnte vielleicht zu spät kommen.
    Kein Bedenken über seine Handlungsweise stieg in ihm
auf, bis zu dem
Augenblick, als er den Brief in den Sammelkasten steckte, ihn
losließ
und das dumpfe Geräusch des Falles hörte.
    Hatte er recht getan? fragte er sich, hatte er nicht
überstürzt
gehandelt, etwa gar Verdurets Pläne gefährdet? Seine
Bedenken
verwandelten sich in bittere Selbstvorwürfe und er
hätte den Brief am
liebsten wieder zurückgenommen, wenn es angegangen
wäre.
    Als er nach Hause kam, fand er eine Depesche von Verduret vor,
worin
er seine Ankunft für den nächsten Abend anzeigte und
guten Erfolg
meldete.
    Prosper war über seine Unbesonnenheit in reiner
Verzweiflung und erwartete mit Bangen des Freundes Rückkehr.
    Dieser erschien zur angekündigten Stunde, er war sehr
aufgeräumt und
brachte ein umfangreiches Manuskript – seine Aufzeichnungen
für den
Untersuchungsrichter – mit.
    »Sie sollen eine hübsche Geschichte zu
hören bekommen,« sagte er zu
Prosper, »daraus werden Sie sehen, daß ich recht
hatte, als ich
behauptete, die erste Ursache eines Verbrechens liegt oft in der
Vergangenheit. Auch in bezug auf den Diebstahl bei Fauvel bewahrheitet
sich dieser Satz. Doch nun hören Sie.«
    Verduret setzte sich in seinem Lehnstuhl zurecht, schlug sein
Manuskript auf und begann zu lesen:

11. Kapitel
    Unweit von Tarascon liegt am rechten Ufer der Rhone das alte,
nun ziemlich verfallene Feudalschloß von Clameran.
    Vor etwa dreißig Jahren wohnte dort der alte Marquis
von Clameran mit seinen beiden Söhnen Gaston und Louis.
    Der alte Marquis war ein Überbleibsel aus
längstvergangenen Zeiten. In seinen Augen war die
große Revolution nichts als eine Meuterei elender Schurken
gewesen, und der Adel galt ihm noch immer als eine bevorzugte Rasse,
der alles erlaubt sei. Er lebte auf großem Fuße,
verbrauchte das Doppelte von seinen Einkünften und rechnete
zuversichtlich darauf, daß mit der Wiederkehr des alten
Königtums der Glanz und Reichtum seines Geschlechtes wieder
hergestellt werden würde.
    Von seinen beiden Söhnen folgte nur Louis seinem
Beispiele, er lebte auf großem Fuße, spielte und
trank und ging auf Abenteuer aus, wie die Helden alter Ritterromane;
Gaston dagegen versuchte die neue Zeit zu verstehen, er begriff,
daß die Vorurteile seines Vaters ungerechtfertigt waren und
las und lernte soviel er konnte, auch ließ er sich heimlich
Zeitungen kommen, vor deren Namen allein sich der alte Marquis schon
entsetzt haben würde.
    Dem Schlosse von Clameran gegenüber, am anderen
Rhoneufer, steht inmitten eines wundervollen Parkes das Kastell
Laverberie, in welchem zu damaliger Zeit die alte Gräfin
Palmyra von Laverberie lebte. Sie war eine Art Seitenstück zu
dem Marquis, auch sie war hochfahrend und adelsstolz, auch sie liebte
es, sich das Leben so angenehm wie

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