Die Akte Nr. 113
weiter und weiter. Längst
hatte er die Anlagen verlassen und war querfeldein gerannt, er setzte
über Gräben und Hecken und endlich, als er
überzeugt war, daß man seine Spur verloren hatte, ihn
nicht mehr einholen würde, ließ er sich unter einem
Baum zu Boden sinken.
Welch gräßliches Ereignis! Vor wenig Stunden
noch war er ein froher, glücklicher Mensch gewesen und jetzt
war er zum Mörder geworden!
Ein Mörder! Er schauderte bei dem Gedanken und mit
Entsetzen bemerkte er, daß er das gräßliche
Mordwerkzeug noch immer krampfhaft fest in der Hand hielt. Er
schleuderte es weit von sich und starrte schmerzverloren in die
Dunkelheit.
Verloren, verloren! Und nicht er allein, nein, durch seine
Schuld, weil er sich nicht zu beherrschen vermochte, war auch sie , deren Ehre ihm
teuerer als seine eigene sein mußte, verloren, ihr guter Ruf
für immer dahin! Ach, er sehnte sich, sie noch einmal zu
sehen, ihre Verzeihung zu erstehen, sie ans Herz zu drücken
– ach, vielleicht zum letztenmal, ehe er für immer
schied!
Für immer! Ja, er mußte fort, weit, weit
fort, denn gewiß war schon die ganze Stadt in Aufruhr und
suchte den Mörder! Fort, nur fort!
Mühsam erhob er sich, jetzt erst fühlte er
in allen Gliedern Schmerzen, die Wunden brannten, kalter
Schweiß bedeckte seine Stirn und die Zähne schlugen
ihm im Fieber zusammen. Nur langsam vermochte er sich vorwärts
zu bewegen und doch drängte es ihn, nach Hause zu kommen, sich
seinem Vater in die Arme zu werfen.
Endlich, nach langem mühseligen Weg langte er im
Schlosse an.
Bei seinem Anblick fuhr der alte Diener, der ihm die
Tür öffnete, entsetzt zurück.
»Um Gottes willen, Herr Graf, was ist Ihnen
widerfahren?«
»Still, still,« entgegnete Gaston mit
heiserer Stimme leise, denn er fürchtete, daß
draußen jemand lauern könnte. »Wo ist mein
Vater?«
»Der Herr Marquis ist in seinem Schlafzimmer, er hat
einen Gichtanfall gehabt und ...«
Aber Gaston hörte nicht weiter, so rasch als er es
vermochte, eilte er die breite Treppe hinauf und trat in das Zimmer
seines Vaters.
Der alte Marquis saß in einem bequemen Lehnstuhl, das
linke, in Tüchern gehüllte Bein weit von sich
weggestreckt und spielte mit seinem jüngeren Sohne Louis
Domino.
Bei Gastons Eintritt hob der Vater den Kopf, aber das Aussehen
des Jünglings entsetzte ihn so, daß er den
Dominostein, den er in der Hand hielt, fallen ließ.
Kein Wunder, Gastons Anblick war wirklich schreckenerregend,
sein Gesicht, seine Hände, seine Kleider waren
blutüberströmt.
»Um Gottes willen, was ist geschehen?«
fragte der Marquis.
»Vater, ich komme, um von dir Abschied zu nehmen und
dich zu bitten, mir die Mittel zur Flucht ins Ausland zu
geben.«
»Flucht? Wozu?«
»Vater, ich muß fliehen und zwar auf der
Stelle, ich werde verfolgt, die Gendarmen werden gleich hier sein ...
Ich habe zwei Menschen getötet.«
Der Schreck des Marquis über diese Worte war so
groß, daß er seine Gicht vollständig
vergaß, er wollte aufspringen und auf Gaston
zustürzen, denn er glaubte nicht anders, als sein Sohn habe
den Verstand verloren.
Aber bei der ersten Bewegung, die er machte, zwang ihn der
Schmerz wieder auf seinen Sessel zurück.
»Was soll das heißen?« fragte er
mit bebender Stimme, »bist du von Sinnen?«
»Ach, nein, Vater, ich bin nicht wahnsinnig, es
verhält sich leider so. Es waren ihrer mehr denn zwanzig, sie
fielen alle über mich her, es war im Kaffeehaus in Tarascon
– da griff ich nach einem Messer ...«
»Zwanzig gegen einen? Ja, das ist so eine
Errungenschaft noch von der großen Revolution her,«
konnte der Marquis nicht unterlassen zu bemerken. »Wie kam
denn die Sache? Hat man dich beleidigt?«
»Nein, aber man hat in meiner Gegenwart
abfällig über eine junge adelige Dame
gesprochen.«
»Und du hast die Buben gezüchtigt, darin
hattest du ganz recht, das ist Edelmannspflicht. Wer ist denn die Dame,
die du verteidigtest?«
»Die Komtesse Valentine von Laverberie.«
»Wie, die Tochter der alten Hexe? Ach, diese Familie,
die Gott verdammen möge, hat immer Unglück
über die unsere gebracht.«
Unterdessen konnte der alte Kammerdiener seine Neugierde, oder
vielmehr seine wirkliche Teilnahme für den jungen Herrn nicht
länger zügeln und obgleich nach der strengen
Hausordnung keiner von der Dienerschaft in die Gemächer des
Marquis eintreten durfte, außer wenn er geläutet
hatte, so überwand der
Weitere Kostenlose Bücher