Die Akte Nr. 113
in den Park
hinabeilen – allein Gaston dachte, es käme auf ein
paar Minuten nicht an, er fühlte das dringende
Bedürfnis, Valentine zu sehen und wollte ihr ein Zeichen geben.
Er ging in sein Zimmer und stellte die brennende Lampe ans
Fenster.
Ob sie ihn wohl noch erwartete? Er spähte nach einer
Antwort aus.
»Kommen Sie, kommen Sie, um Gottes willen,«
drängte der Kammerdiener. »Was machen Sie da, wenn
Sie noch länger zögern, sind Sie verloren!«
Endlich ging Gaston, aber sie hatten erst den Flur erreicht,
als schon der Signalschuß ertönte.
Und fast gleichzeitig flogen die Tore auf, man hörte
Rufen, Schreien, Säbelgeklirr und die hallenden
Hufschläge mehrerer Pferde.
Der Marquis lehnte in höchster Aufregung am Fenster
und erwartete den Ausgang des furchtbaren Dramas. Er hoffte das Beste,
hatte er doch vorzügliche Maßnahmen getroffen, um das
Leben seines ältesten, seines liebsten Sohnes zu retten.
Was er vorausgesehen, geschah, es gelang Louis und dem
Reitknecht, sich Bahn zu brechen, mit verhängten
Zügeln stürmten sie, der eine rechts, der andere
links, hinaus und hinterher flogen die berittenen Gendarmen und ihre
Begleiter, die jungen Männer aus der Stadt, die die Anzeige
gemacht hatten.
Der Marquis atmete hoch auf, als er die Reiter im Dunkel der
Nacht verschwinden sah. Da er keine Ahnung von der Verzögerung
hatte, meinte er, Gaston müsse schon auf dem Wege zu Peters
Hütte sein und er zählte die Minuten: jetzt
mußte er sie erreicht haben, der Fährmann
löste den Kahn, Gaston stieg ein, ein kräftiger
Ruderschlag, das Fahrzeug trieb mitten auf der Rhone.
»Gerettet,« flüsterte der Vater mit
bebenden Lippen, »jetzt ist er wohl gerettet, Gott, ich danke
dir!«
Aber das Verhängnis – oder sollte es ein
anderer Grund gewesen sein? – machte die Berechnungen des
Marquis zunichte; etwa hundert Meter vom Schlosse entfernt strauchelte
Louis' Pferd und stürzte mit samt dem Reiter. Der
Gestürzte wurde sofort umringt, aber einige von den jungen
Leuten, die die Gendarmen freiwillig auf die Menschenjagd begleitet
hatten, erkannten den jüngeren Clameran.
»Das ist nicht der Mörder,« riefen
sie den Gendarmen zu, »rasch zurück.«
Sie kehrten um und kamen gerade zur rechten Zeit, um beim
schwankenden Schein des Mondes, der eben aus den Wolken brach, einen
Mann über die Mauer klettern zu sehen.
»Ha, dort, dort ist er!« riefen sie und
sprengten auf die Stelle zu, wo Gaston herabgesprungen war.
Auf hügeligem Boden ist es – wofern man nur
flink zu Fuß ist und einige Geistesgegenwart besitzt, nicht
allzu schwer verfolgenden Reitern zu entkommen, und das Terrain war
Gaston außerordentlich günstig, vor ihm dehnten sich
weite Krappfelder, die bekanntlich durch fast metertiefe Furchen
durchzogen sind.
Hier war ein Traben unmöglich, die Reiter
mußten froh sein, wenn die Pferde nicht stürzten. Die
meisten Gendarmen standen auch von der Verfolgung ab, da sie ihre
Pferde nicht gefährden wollten, nur vier kühne Reiter
unternahmen das Wagnis und verfolgten Gaston, aber ohne Erfolg.
Gewandt sprang er über die Furchen, hatte bald die
Felder durchquert und eine junge Kastanienanpflanzung erreicht, hier
lief er dicht an den Bäumen entlang, er verzweifelte nicht,
denn er kannte die Gegend genau, er wußte, daß am
Ausgange des Wäldchens sich ein breiter, tiefer Graben befand,
dort wollte er hinabspringen und in dem Graben ungesehen weiterlaufen.
Aber er hatte an das Steigen des Wassers in der Rhone nicht gedacht,
als er an den Graben kam, sah er, daß er voll Wasser war.
Einen Augenblick entsank ihm der Mut, allein rasch
gefaßt, nahm er einen Anlauf, um hinüberzuspringen,
da sah er zu seinem Entsetzen, daß sich Gendarmen
drüben befanden; sie hatten einfach die Krappanpflanzungen und
das Kastanienwäldchen umritten, um ihn jenseits des Grabens zu
erwarten.
Unentschlossen stand er da, sollte er es doch wagen
hinüberzuspringen und die Hütte des
Fährmanns, die am Ende der Wiese stand, zu erreichen suchen?
Aber war das möglich? Würden sie ihn nicht sofort
einholen? Zurückkehren? Aber Verfolger lauerten auch im
Wäldchen und von der Straße her, die zur Rechten
lief, schallten Hufschläge, er war also von drei Seiten
umstellt. Zur Linken befand sich die Rhone, der Strom war hoch
angeschwollen, dem Austreten nahe und die dunkeln schweren Wassermassen
brausten und schäumten und rollten mit dumpfem, drohendem
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