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Die Akte Nr. 113

Titel: Die Akte Nr. 113 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Gaboriau
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Einen Augenblick lang dachte er daran, von seinem Bruder eine
größere Summe zu entlehnen und für immer zu
verschwinden – aber er verwarf den Gedanken wieder
– denn so viel Geld als er benötigte, konnte er ja
doch nicht fordern.
    Der Kopf schmerzte ihm schier zum zerspringen und doch wollte
ihm nichts einfallen. Er gab schließlich sein Nachdenken auf.
    »Vielleicht hilft der Zufall,« sagte er sich
mit bösem Lächeln, »er hat mir ja schon
öfters geholfen.«
    Für den Augenblick war weiter nichts zu tun, als
Gaston möglichst zu verhindern an die Pariser Reise zu denken.
    Zu diesem Zwecke äußerte Louis am
nächsten Tag den Wunsch, Oloron und die Umgebung genau kennen
zu lernen.
    »Es ist ein herrliches Land,« sagte er.
    Gaston ging freudig auf den Vorschlag ein und täglich
wurden Ausflüge zu Wagen oder zu Pferde unternommen, allein es
half nicht viel, denn Gaston ließ den Gedanken an die Pariser
Reise nicht fallen, er wollte nur die Antwort auf seine Anfrage
abwarten.
    Nun versuchte es Louis ihn durch ernste Gegenvorstellungen
davon abzubringen.
    »Sie ist die Frau eines andern, hat wahrscheinlich
Kinder, denkst du nicht, daß es für sie peinlich sein
müßte, dich wiederzusehen und auch für dich
selbst kann die Begegnung nur schmerzlich sein.«
    »Du magst wohl recht haben, es ist töricht,
aber – ich kann nicht anders.«
    Mit fieberhafter Ungeduld erwartete er den Brief aus der
Heimat, aber noch größer war Louis' Ungeduld und er
ging täglich dem Briefboten entgegen, um ihm die Post
abzunehmen.
    Und endlich war der ersehnte Brief da!
    Louis ging damit rasch auf sein Zimmer, schloß sich
ein und riß das Schreiben auf.
    Der alte Schulfreund berichtete eine Unmenge Dinge, die Louis
nicht interessierten, doch endlich fand er die Valentine betreffende
Stelle. Sie lautete:
    »Die Komtesse Laverberie hat sich
mit
einem Pariser Bankier, namens André Fauvel verheiratet. Er ist
ein Ehrenmann und ich gedenke, bei meiner nächsten Reise nach
Paris, mit ihm in geschäftliche Beziehung zu treten. Ich
hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mich auf dich berufe.«
    Louis war außer sich vor Aufregung.
    Ich wäre verloren gewesen, wenn Gaston den Brief
erhalten hätte, sagte er sich, aber er war keinen Augenblick
im Zweifel, daß die Gefahr nicht abgewendet, sondern nur
hinausgeschoben war. Gaston würde sich höchstens eine
Woche noch gedulden, dann dem Freunde nochmals schreiben ...
    Und selbst, wenn ich den zweiten Brief ebenfalls unterschlage,
sagte er sich, was hilft das? Dieser Schafskopf von einem
Schulkameraden will ja nach Paris, wird von Gaston sprechen –
dann ist alles verloren!
    Nun blieb ihm nur eins übrig: von seinem Bruder Geld
ausborgen und das Weite suchen.
    Eines Abends ging er mit Gaston auf der Straße, die
von dem Hüttenwerk nach Oloron führte, spazieren, und
war eben im Begriff eine kleine Geschichte zu erzählen, deren
Schluß eine Anleihe von 200 000 Frank bilden sollte, als er
plötzlich heftig zusammenschrak. Ein wie ein Handwerksbursche
gekleideter junger Mann war an ihnen vorübergekommen und Louis
hatte in ihm Raoul erkannt.
    Gaston bemerkte seinen Schreck.
    »Was ist dir?« fragte er erstaunt.
    »O nichts,« entgegnete Louis mit vor
Aufregung bebender Stimme, »ich bin an einen Stein
angestoßen und habe mir wehe getan.«
    Gaston sprach und erzählte allerlei, aber Louis ging
stumm und wie geistesabwesend neben ihm her.
    Was sollte Raouls Anwesenheit bedeuten? Louis hatte ihm
täglich geschrieben, aber keine Antwort erhalten. War in Paris
ein unvorhergesehener Fall eingetreten? Kam er, um ihm zu sagen,
daß das Spiel verloren sei?
    Gaston beendete zu Louis' Freude den Abendspaziergang
früher als gewöhnlich, er hatte tagsüber
sehr viel gearbeitet, fühlte sich müde und begab sich
daher zur Ruhe. – Louis war frei!
    Rasch verließ er wieder das Haus. Er war
überzeugt, daß Raoul in der Nähe
herumschleichen würde, und richtig hatte er keine hundert
Schritte noch gemacht, als ein Mann hinter einem Gebüsch
hervortrat und sich ihm in den Weg stellte.
    »Raoul! was gibt's, was führt dich
her?«
    »Nichts.«
    »Was tust du dann hier, mit welchem Recht
verläßt du deinen Posten, weißt du denn
nicht, daß uns das zugrunde richten kann?«
    »Das ist meine Sache,« antwortete Raoul
ruhig.
    Wie mit eiserner Faust umklammerte Louis des
Jünglings Arm, daß dieser hätte aufschreien
mögen.
    »Was soll das

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