Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
ein Hotel in der Innenstadt und rufe Sie dann gleich an, damit Sie Bescheid wissen. Dort können Sie mich jederzeit erreichen.«
Er verabschiedete sich von seinem Vorgesetzten und ging.
Am anderen Morgen stand Miller kurz vor neun Uhr vor dem Haus und drückte auf die blankgeputzte Klingel. Er wollte den Mann erreichen, bevor er zur Arbeit in sein Büro fortging. Die Tür wurde von einem Hausmädchen geöffnet. Sie führte ihn in ein Wohnzimmer und entfernte sich dann, um den Hausherrn zu holen.
Der Mann, der zehn Minuten später in das Wohnzimmer trat, war Mitte Fünfzig, hatte krauses Haar mit silbernen Schläfen und wirkte selbstbewußt und elegant. Auf ein nicht unbeträchtliches Einkommen ließen auch das Mobiliar und die Ausstattung des Wohnzimmers schließen.
Er betrachtete seinen unangemeldeten Besucher ohne Neugier, hatte aber auf den ersten Blick die billige Kleidung eines Angehörigen der werktätigen Klasse wahrgenommen.
»Und was kann ich für Sie tun?« fragte er.
Der Besucher war verlegen: die luxuriöse Einrichtung des Wohnzimmers machte ihn offenkundig befangen.
»Tja, Herr Doktor, ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen.«
»Hören Sie mal«, sagte der ODESSA-Mann, »Sie werden doch sicher wissen, daß ich hier gleich um die Ecke mein Büro habe. Vielleicht sollten Sie dorthin gehen und sich von meiner Sekretärin einen Termin geben lassen.«
»Ja, also um eine Rechtsauskunft wollte ich Sie eigentlich nicht direkt gebeten haben«, sagte Miller. Er sprach bewußt mit norddeutschem Akzent. Offensichtlich war er verlegen und wußte nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Kurzentschlossen zog er einen Brief aus der Brusttasche und hielt ihn seinem Gegenüber hin.
»Ich habe einen Empfehlungsbrief von dem Herrn mitbekommen, der mir sagte, daß ich mich an Sie wenden soll.«
Der ODESSA-Mann nahm den Brief wortlos entgegen, öffnete und las ihn. Er zuckte leicht zusammen und sah Miller über den Briefbogen hinweg prüfend an.
»Ich verstehe, Herr Kolb. Vielleicht setzen wir uns einen Augenblick.«
Er forderte Miller auf, sich auf einen Stuhl ohne Armlehne zu setzen, und nahm selbst in einem Sessel Platz. Minutenlang sah er seinen Gast mit nachdenklich gerunzelten Brauen unverwandt an. Plötzlich fragte er:
»Wie war doch gleich Ihr Name?«
»Kolb, Herr Doktor.«
»Vorname?«
»Rolf Günther.«
»Haben Sie irgendwelche Ausweise bei sich?«
Miller sah verdutzt drein
»Nur meinen Führerschein, Herr Doktor.«
»Zeigen Sie mal her.«
Der Anwalt streckte die Hand aus und überließ es Miller, aufzustehen und ihm den Führerschein zu reichen. Der Mann nahm ihn an sich, schlug ihn auf und las die dort vermerkten Angaben. Zwischendurch schaute er prüfend zu Miller hinüber und verglich sein Gesicht mit der Photographie. Sie stimmten miteinander überein.
»Wann geboren?« fragte er plötzlich.
»Geboren? … am 18. Juni, Herr Doktor.«
»In welchem Jahr, Kolb?«
»1925, Herr Doktor.«
Der Anwalt befaßte sich noch ein paar weitere Minuten lang mit dem Führerschein.
»Warten Sie hier«, sagte er dann unvermittelt, stand auf und verließ das Zimmer. Er ging quer durch das Haus in den hinteren Trakt, wo seine Anwaltskanzlei war. Sie grenzte an eine zweite Straße, von der aus die Klienten die Praxis betraten. Er nahm ein dickes Buch heraus und schlug es auf.
Zufällig kannte er den Namen Joachim Eberhardt; aber er war mit dem Mann nie zusammengetroffen, und er war sich auch nicht absolut sicher, welchen Rang er zuletzt innegehabt hatte. Das Buch bestätigte, daß er am 10. Januar 1945 zum Standartenführer der Waffen-SS befördert worden war. Er blätterte weiter und schlug unter »Kolb« nach. Es gab sieben Leute dieses Namens, aber nur einen Rolf Günther Kolb. Im April 1945 zum Unterscharführer befördert. Geburtsdatum: 18. 6. 25. Er klappte das Buch zu, stellte es an seinen Platz zurück und verschloß den Safe. Dann kehrte er auf demselben Weg in das Wohnzimmer zurück. Sein Gast hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Er saß noch in der gleichen steifen Haltung auf seinem Stuhl.
Der Anwalt setzte sich wieder in den Sessel.
»Es ist Ihnen doch wohl klar, daß ich Ihnen möglicherweise nicht helfen kann, oder?«
Miller biß sich auf die Lippen und nickte.
»Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll, Herr Doktor. Ich habe Herrn Eberhardt um Hilfe gebeten, als die anfingen, nach mir zu suchen, und er gab mir den Brief und sagte, ich soll mich an Sie wenden. Er sagte,
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