Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
Schließlich war er kein professioneller Einbrecher wie Koppel und staunte immer noch über das Glück und seinen Instinkt, der ihm geraten hatte, Winzers Haus einen zweiten Besuch abzustatten. Er hatte gefunden, was er suchte, aber das machte ihn nicht ruhiger.
Seine Nervosität rührte vor allem von dem Gedanken an das bevorstehende Ende der Jagd her. Von der Aussicht auf die Konfrontation mit dem Mann, den er haßte und nach so vielen Umwegen, die ihn immer weiter von seinem Ziel abzubringen schienen, nun endlich gefunden hatte. Und von der Befürchtung, daß noch im letzten Augenblick irgend etwas schiefgehen konnte.
Miller fiel jener Dr. Schmidt wieder ein, der ihn im Hotel in Bad Godesberg aufgesucht und davor gewarnt hatte, seine Nachforschungen nach Roschmann fortzusetzen. Er mußte an Wiesenthal denken, der ihm gesagt hatte: »Seien Sie vorsichtig. Diese Männer können gefährlich werden.« Nach alledem war es verwunderlich, daß sie noch nicht zugeschlagen hatten. Sie wußten, daß er Miller hieß – der Besuch im Hotel Dreesen bewies das; und seit er Bayer in Stuttgart niedergeschlagen hatte, mußte ihnen auch seine Identität als Kolb bekannt sein. Und doch hatte sich niemand blicken lassen. Was sie seiner Meinung nach nicht wissen konnten, war dagegen die Tatsache, daß er jetzt unmittelbar vor seinem Ziel war. Vielleicht hatten sie seine Spur verloren oder beschlossen, ihn sich selbst zu überlassen, weil sie nach dem Untertauchen des Fälschers keine Gefahr mehr in ihm sahen. Dabei hatte er die Akte, Winzers geheimes und explosives Beweismaterial, an sich gebracht und damit die aufsehenerregendste Story des Jahrzehnts »im Kasten«. Er grinste befriedigt, und die Kellnerin, die gerade vorbeikam, war der Meinung, sein Lächeln gelte ihr. Als sie das nächstemal an seinem Tisch vorüberkam, wackelte sie provozierend mit dem Hintern, und Miller mußte an Sigi denken. Seit Wien hatte er sie nicht mehr angerufen. Den letzten Brief hatte er ihr Anfang Januar geschrieben – also vor sechs Wochen. Jetzt fühlte er, daß er sie brauchte wie nie zuvor.
Komisch, dachte er, daß die Männer die Frauen immer dann besonders entbehren, wenn sie es mit der Angst zu tun kriegen. Und er mußte sich eingestehen, daß er es mit der Angst bekam – Angst vor dem, was er getan hatte, und Angst vor dem Massenmörder, dem er morgen gegenübertreten würde.
Er schüttelte den Kopf, um die bedrückenden Gedanken zu verscheuchen, und bestellte noch eine halbe Flasche Wein. Das war nicht der Augenblick, sich elegischen Anwandlungen zu überlassen. Er hatte einen journalistischen Coup gelandet, der eine beispiellose Sensation darstellte – und er war dabei, eine alte Rechnung zu begleichen.
Er überdachte noch einmal seinen Plan, während er den zweiten halben Liter Wein trank: Ein Anruf beim Staatsanwalt in Ludwigsburg. Dreißig Minuten später kam die Polizei und schaffte den Mann weg, damit er endlich in Polizeigewahrsam genommen, vor Gericht gestellt und zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde. Wäre Miller ein härterer Mann gewesen, hätte er es sich nicht nehmen lassen wollen, Roschmann mit eigenen Händen umzubringen.
Bei dem Gedanken daran würde ihm bewußt, daß er unbewaffnet war. Würde er Roschmann wirklich allein antreffen? War der SS-Verbrecher überzeugt, sein neuer Name sichere ihn vor der Entlarvung? Oder hatte er einen privaten, bewaffneten Leibwächter für den Fall der Fälle?
Karl Brandt, der Hamburger Kriminalinspektor, hatte Miller zum 25. Geburtstag, den man feuchtfröhlich im Kreise von einigen Freunden und Mädchen begangen hatte, ein Paar Handschellen geschenkt. »Trauringe«, hatte er scherzend gesagt, »für den Fall, daß du dich einmal verehelichen solltest.« Seitdem lagen die Handschellen auf dem Boden einer Truhe in Millers Wohnung.
Er besaß auch eine Pistole, eine kleine Sauer Automatic, die er ganz legal gekauft hatte, als er 1960 eine Enthüllungsstory über das organisierte Gangstertum im Hamburger Vergnügungsgewerbe recherchierte und von den Bossen auf St. Pauli bedroht wurde. Die Waffe war ebenfalls in seiner Wohnung in Hamburg – in einer verschlossenen Schreibtischlade.
Leicht benommen vom Wein, vom doppelten Kognak und auch vor Müdigkeit, zahlte er die Rechnung, stand auf und ging ins Hotel zurück. Er wollte von dort aus gleich Sigi in Hamburg anrufen, benutzte dann aber doch lieber eine der beiden öffentlichen Telefonzellen vorm Hoteleingang. Es war sicherer
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