Die Akte Rosenthal - Seelenfischer-Trilogie 03
Auf dessen Oberfläche spiegelten sich die Neonröhren wie glänzende Schlangen. Auf die Gefangene wirkte er wie ein Seziertisch. Vermutlich war er das auch.
Um nicht auf den Tisch starren zu müssen, versuchte sie, das Plastikband an ihrem Handgelenk mit den Zähnen abzubeißen. Es störte sie, sie kam sich damit vor wie ein Neugeborenes. Das Band erwies sich als zu stabil. Unwillkürlich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, ob das Plastikband ihre neue Situation reflektierte? Begann am heutigen Tag ihr drittes Leben? Das erste hatte vor gut zwei Jahren in Rom geendet. Ihr zweites Leben hatte sie unter falschem Namen geführt, sich an stetig wechselnden Orten versteckt, zuletzt in einer heruntergekommenen Mietskaserne im Randbezirk Tangers. Bis man sie aus ihrer winzigen Wohnung verschleppt hatte. Wann das war, wusste sie nicht, denn zwischenzeitlich hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren.
Ihre Flucht war zu Ende. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die sich ebenso trocken anfühlten wie ihr Mund. Doch ihr Geist war jetzt hellwach. Das stammte sicherlich von der Substanz, die sie ihr vorhin injiziert hatten.
Die Gefangene machte sich keinerlei Illusionen über ihre Lage. Ihr drittes Leben würde nicht mehr allzu lange dauern.
Sie sah sich jetzt die Umgebung genauer an, in der sie vermutlich bald sterben würde. Ihr fiel auf, dass die Wände fast den gleichen Farbton aufwiesen wie ihr Hemd. Lindgrün. Wenigstens nicht weiß. Sie mochte die Farbe nicht, für sie haftete ihr Krankenhausgeruch an und überdies war sie für viele Kulturen die Farbe der Trauer.
Der lindgrüne Anstrich sollte vermutlich eine beruhigende Wirkung auf die Gefangenen ausüben. Stattdessen überkam die junge Frau ein Anflug von Hysterie. Doch sie widerstand dem Drang zu lachen. Sie war sich bewusst, dass sie von einer Rotte Wichtigtuer durch die verdunkelte Glasscheibe, die ihr gegenüber die halbe Wand einnahm, beobachtet wurde. Diese Behandlung diente nur einem Zweck: Ihre Ängste zu steigern, um aus ihr ein auf den puren Überlebenswillen reduziertes Stück Mensch zu machen: Schwach, ängstlich, formbar.
Was würden diese Experten der menschlichen Psyche über sie zu sagen haben? Dass sie sich vor Angst in die Hose machte? Verdammte Klugscheißer . Dazu musste man wahrlich kein Experte sein. Entgegen ihrer Absicht steigerte sie sich nun doch in eine Wut hinein. Wut war stets ihr wirksamster Abwehrmechanismus gewesen, sie umgab sie wie ein Mantel, schützte sie vor Schwäche oder, so wie heute, vor dem Wissen, den Unbekannten hinter der Scheibe ausgeliefert zu sein. Sie konnte nicht anders, ihr Temperament übernahm einmal mehr die Regie: Sie zeigte der Scheibe ihren Mittelfinger.
Dieses Mal würde kein Jules auftauchen und sie vor der tödlichen Gefahr retten. Ihre Entführer würden sie unter Drogen setzen und alles aus ihr herauspressen, was sie wissen wollten. Danach würden sie sie entsorgen wie lästigen Müll und niemand würde je erfahren, was aus ihr geworden war. Diese nüchterne Überlegung bändigte schließlich ihre Wut und machte Platz für ruhige Entschlossenheit.
Ihr analytischer Verstand hatte damals im Irak, als sie schon einmal in die Hände des amerikanischen Geheimdienstes gefallen war - und wer sollte es dieses Mal sonst sein? -, gelernt, seine Ängste zu beherrschen. Besser gesagt, Patrick McKenzie, der Leiter der amerikanischen Militärpolizei vor Ort, der sie damals verhaftet und später dann unterstützt hatte, hatte es sie gelehrt. Merkwürdig, dass sie gerade jetzt an Patrick denken musste. Er war seit fast zwei Jahren tot. Zerfetzt von einer Autobombe.
Im Grunde war es gar nicht so schwer, seine Angst zu beherrschen, wenn man wusste, wie sie im Körper entstand. Sie war nichts weiter als eine Kombination verschiedener Chemikalien, die ihre Botenstoffe ins Gehirn jagten, um Gefahr zu signalisieren. Fast alle Lebewesen reagierten darauf mit Flucht. Doch was tat man, wenn man eingesperrt war und nicht flüchten konnte? Man stellte sich der Gefahr, versuchte, sie zu neutralisieren. Genau das würde sie tun. Als Kriegsreporterin hatte sie mehr als einmal lebensbedrohliche Situationen überstehen müssen.
Doch nicht allein ihr Überlebenswille und ihre Entschlossenheit trieben sie an. Wenn sie ehrlich war, war sie es schon lange leid, wie ein angeschossenes Wild auf der Flucht zu sein, fortdauernd gehetzt von unbekannten Jägern.
Durch ihre Flucht hatte sie sich zwar fast zwei weitere Jahre
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