Die Akte Rosenthal - Seelenfischer-Trilogie 03
erkauft, aber es waren keine guten Jahre gewesen. Sich nirgendwo sicher zu fühlen, von Ort zu Ort zu ziehen, ständig den Blick zurück über die Schulter gewandt und niemals ruhig zu schlafen, das konnte jeden auf Dauer zermürben.
Ab heute war damit Schluss. Sie würde dem Gegner ins Gesicht blicken und Tatsachen schaffen. Falls dies ihre letzten Tage auf Erden sein sollten, dann würde sie eine gute Show bieten.
Sie straffte sich und warf den Kopf zurück, als wollte sie ihre Haare ausschütteln. Dann lehnte sie sich für ihr Publikum mit im Nacken verschränkten Händen entspannt zurück, ihre Füße platzierte sie auf den Seziertisch. Weil der Raum so hässlich und das Licht so grell war, schloss sie ihre Lider.
Unwillkürlich schob sich das Bild ihres Großvaters vor ihr inneres Auge und verdrängte kurzzeitig ihre gegenwärtige Situation. Der Gedanke an ihn machte sie traurig. Würde er es verkraften, seine Enkelin ein zweites Mal zu verlieren? Schlimmer noch, niemals etwas über ihr weiteres Schicksal zu erfahren? Wenn sie sie töteten, dann töteten sie auch ihn damit. Der Gedanke fachte ihren Kampfgeist weiter an, unbewusst ballte sie ihre Fäuste im Nacken. So leicht würde sie es dem Gegner nicht machen! Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, sich aus dieser Situation herauszuwinden? Sie wollten ihre Akte, ihre Recherchen. Sie selbst wollte überleben. Also musste sie versuchen, mit dem Gegner zu verhandeln.
Jules und später ihr Großvater waren die einzigen Personen gewesen, die wussten, was wirklich in jenen Tagen in Rom geschehen war. Ihr vermeintlicher Tod, die Überführung, die inszenierte Beerdigung … Es war Jules' Idee gewesen. Der Ex-Agent hatte alles generalstabsmäßig geplant.
Mehrere Tage lang hatten Jules und sie sich danach versteckt gehalten. Erst als Jules davon überzeugt gewesen war, dass sie sich vorerst in Sicherheit befand, hatte er eingewilligt, mit dem alten Rabbi Kontakt aufzunehmen. So behutsam wie möglich hatte er ihn dann auf die Nachricht vorbereitet, dass seine einzige Enkeltochter noch lebte.
Aus Sicherheitsgründen hatte sie nur einmal alle paar Wochen mit ihrem Großvater telefonieren können. Jules hatte dafür eine spezielle Vorgehensweise entwickelt. Sie und ihr Großvater benutzten dazu einmalig ein Prepaidhandy. Jules versorgte ihren Großvater damit und gab ihm Tag und Uhrzeit mit einem vereinbarten Code durch.
Die junge Frau malte sich nun aus, wie ihr Großvater reagieren würde, wenn sie sich nicht zur vereinbarten Zeit bei ihm melden würde. Ihr Großvater würde stundenlang vor dem Telefon ausharren, bis er begriff, dass sein Warten vergeblich blieb und sich mit Jules in Verbindung setzen.
Jules würde sofort nach Tanger eilen und entdecken, dass sie verschwunden war. Sicher würde er alles daran setzen, ihre Spur aufzunehmen, aber sie hatte keine Hoffnung, dass es ihm gelingen würde.
Noch in Rom, im Santa Maria Krankenhaus, hatte sie Jules von ihrer brisanten Entdeckung im Irak erzählt. Sie hatte mit ihm auch über die gemeinsamen Recherchen mit Patrick McKenzie und ihre Theorie zu Patricks gewaltsamem Tod gesprochen - hauptsächlich, weil sie seine Einschätzung dazu hatte hören wollen. Und wie sie sie gehört hatte! Sie konnte sich noch gut an Jules' entsetzte Miene erinnern. Er hatte einige unfeine Sachen auf Französisch von sich gegeben und sie bedrängt, die Unterlagen zu vernichten, keine weiteren Recherchen anzustellen und die ganze Angelegenheit sofort zu vergessen.
„Bist du verrückt?“, hatte er sie angefahren. „Das ist lebensgefährlich für dich und für jeden aus deiner Umgebung. Du kannst nur verlieren. Der Gegner ist zu mächtig.“
Jules hatte wissen wollen, wo sich ihre Unterlagen befanden, aber Rabea hatte es ihm nicht verraten, nur, dass die Akte sicher verwahrt wäre. Sie kannte Jules. Er hätte alles vernichtet, daraus hatte er keinen Hehl gemacht. „Hast du überhaupt eine Ahnung, was das für Folgen haben könnte, wenn du deine Behauptungen öffentlich machst? Jedermann weiß doch sowieso, dass die Amerikaner im Irak Dreck am Stecken haben, aber der Weltöffentlichkeit den tatsächlichen Beweis zu liefern wäre Wahnwitz!“, hatte er sie weiter bedrängt. „Euer christlicher Gott helfe Amerika und seinen Alliierten. Letztes Jahr hat schon die Ankündigung dieses verrückten Predigers Terry Jones ausgereicht, ein paar Korane zu verbrennen, um Unruhen in der islamischen Welt auszulösen. Allein in Afghanistan
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