Die Albertis: Roman (German Edition)
hat, und selbst Wolf. Das ist eigentlich das Schwerste, dass unsere Freundschaft dabei zerstört worden ist, und es wird Jahre dauern, bis er wieder mit mir reden wird.
Paul kam nicht dazu, weiter zu grübeln, denn Anne kam herein. Sie sah blendend aus, der Schlaf und das Bad hatten ihr gut getan, sie trug einen Hausanzug aus sandfarbenem Kaschmir und amerikanische Hausmokassins aus Wildleder, die mit Fell gefüttert waren.
«Wollen wir nicht wenigstens noch eine halbe Stunde an die Luft? Bevor es ganz dunkel ist?», fragte sie.
Er war einverstanden. Sie hüllten sich in dicke Wintermäntel, knoteten sich Schals um, sagten Frau Merk Bescheid, die in der Küche noch immer mit dem Abwasch beschäftigt war, und verließen das Haus, Hand in Hand. Sie gingen ihren Weg. Seitlich des Hauses herunter, wo Straßenlaternen den kalten Boden beleuchteten, über die Brücke, hinauf bis in den Wald. Sie sprachen nicht, hingen ihren Gedanken nach, dachten an dasselbe: an damals, als sie hier gemeinsam spazieren gegangen waren, an jenem warmen Sommernachmittag vor eineinhalb Jahren. Als sie an die Stelle kamen, wo sie das Reh befreit hatten, blieben sie stehen und betrachteten beide lächelnd den Platz, wo sie sich das erste Mal geliebt hatten. Paul umarmte Anne, sie streichelte sein Gesicht. Sie marschierten weiter. Ihr Atem bildete kleine weiße Wölkchen, ihre Nasen wurden rot von der Kälte.
Paul unterbrach das Schweigen: «Ich habe Sybille gesagt, dass ich die Scheidung will. Sie ist einverstanden.»
Annes Herz schlug bis zum Halse. «Warum hast du mir das nicht erzählt?»
«Ich wollte das erst mit ihr klären, damit du dich nicht unnötig aufregen musst.» Er machte eine Pause. «Habe ich damit deine Frage beantwortet?»
«Welche Frage?»
«Ob ich dich liebe!»
Statt etwas zu sagen, blieb Anne stehen und küsste ihn.
Als sie wenig später nach Hause kamen, stand Frau Merk in der Diele und war im Begriff zu gehen. Sie hatte ihre Handtasche übergehängt, hielt ein Paar dicke Wollhandschuhe in der Hand und eine Zellglastüte mit Keksen, die sie mit einem weihnachtsroten Bändchen zugeschnürt hatte.
«Ich bin dann bei meiner Freundin», erklärte sie. «Das Abendessen steht in der Küche.»
«Viel Spaß!», antwortete Anne. Sie und Paul zogen ihre Mäntel aus und warfen sie über die Garderobenhaken. Als sie ins Wohnzimmer traten, kam Laura die Treppe heruntergerast, mit einem Handy am Ohr.
«Ich bin in zehn Minuten da!», schrie sie ins Handy und schoss an den beiden vorbei. «Ich bin im McDonald's!», rief sie, und man wusste nicht genau, ob sie Anne und Paul meinte oder ihren Gesprächspartner am Handy. Kaum war sie in der Diele, machte sie auf dem Absatz kehrt und baute sich vor ihrem Vater auf. «Nein, warte», sagte sie laut ins Handy, als habe sie es mit einem Schwerhörigen zu tun. «... ich bin dann weg, nein, ich rede mit meinem Vater ... Papa darf ich bei Connie übernachten?, bitte! Seine Eltern sind auch einverstanden!» Sie sah ihn mit großen Augen an. Paul war platt. Sie wertete das als Zustimmung. «Er ist einverstanden», quakelte sie fröhlich ins Handy. «Tschüs!» Dieses Mal war das Wort an Anne und Paul gerichtet, sie wollte schon den Raum verlassen, immer noch telefonierend, da packte sie Paul am Kragen ihres dünnen T-Shirts.
«Moment!», sagte er ganz ruhig. «Moment!»
Laura drehte sich um. «Was?», fragte sie, und hatte dieses Funkeln in den Augen, das Anne und Paul bisher nur von Anuschka kannten.
«Kannst du mal das Gespräch beenden?»
«Warte!», sagte Laura, nahm das Handy vom Ohr, sah ihren Vater an, verschränkte die Arme und hielt das Gerät hoch wie eine Handgranate. «Was ist?»
«Was ist?», wiederholte Paul.
«Ich will gefragt werden, wenn du abends ausgehst und über Nacht wegbleiben willst!»
«Hab ich doch. Spreche ich chinesisch oder bist du schwerhörig?» Sie nahm das Handy wieder ans Ohr. «Kleinen Moment noch!», zwitscherte sie.
Anne sah, dass sich das Fortschreiten der Zeit und die Hormone nicht bremsen ließen. «Lass sie doch, Paul.»
Hilflos sah er zu Anne hin. Stumm und fragend formten seine Lippen die Worte: über Nacht? Mit vierzehn? Anne nickte. Dankbar sah Laura sie an.
«Also gut, von mir aus. Wenn ... äh ... Connies Eltern auch einverstanden sind?»
«Was habe ich denn eben gesagt?» Sie nahm erneut das Handy ans Ohr. «Er versteht mal wieder nichts!»
«Also hau schon ab!»
Weg war Laura.
Paul wollte die Treppe hochgehen. In dem Moment
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