Die Albertis: Roman (German Edition)
gleich. Das Dach eines Schuppens war glasiert vom Frost. An einer defekten Regenrinne hingen Eiszapfen. Hier und da war ein Fenster erleuchtet, die Nachbarn bereiteten sich auf den Tag vor. Anne sah eine nackte junge Frau, die sich streckte und dann das Fenster schloss. Ein Stockwerk tiefer machte ein Mann in der Küche Frühstück. Im Erdgeschoss wurde eine Gardine aufgezogen.
Dreißigster Dezember. In diesem Jahr fiel der einunddreißigste aus, für zwei Familien, und die Welt scherte sich nicht darum und drehte sich weiter, und der Wechsel war mehr als nur der zwischen zwei Jahren: Es war der Schritt in ein neues Leben. Anne atmete tief durch. Sie ging ins Bad. Anschließend stellte sie in der Küche den Kessel für das Teewasser auf den Herd. Während sie wartete, bis es kochte, löffelte sie gedankenverloren einen Magermilchjoghurt. Sie erschrak, als Pavel plötzlich in die Küche kam, müde noch, mit zerknautschtem Gesicht und nur mit einer Unterhose bekleidet.
Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Morgen, Anne.» «Morgen, Pavel.»
Er zog die Besteckschublade auf, nahm einen Teelöffel heraus, öffnete die Kühlschranktür und griff nach dem Topf mit Fleischsalat. Dann zog er den Deckel ab, schloss die Tür wieder, lehnte sich gegen den Kühlschrank und löffelte seelenruhig und wortlos den Salat.
Der Wasserkessel pfiff.
Anne nahm ihm vom Herd. «Dass du so was auf nüchternen Magen ...» Sie gab Teeblätter in die Kanne und goss das Wasser darauf. «Ungesund bis zum Geht-nicht-mehr!»
«Sonst noch was?»
«Musst du heute in die Werkstatt?»
«Was denkst du denn? So ein feines Leben wie Papa und du und Edward und ...»
«Hast du schlecht geschlafen, oder was?» Sie holte sich aus dem Schrank eine Teetasse und stellte sie auf den Tisch.
«Echt, Mama manchmal denke ich: Ich bin der Einzige, der hier richtig arbeitet. Edward pennt bis mittags, Luis hat Ferien, wie immer eigentlich, und ihr ... na ja ... ich hab mir die Scheiße ja selber eingebrockt. Ich sollte lieber einen auf lau machen, Arbeitslosengeld kassieren wie der Rest der Welt.» Er hatte den Fleischsalat aufgegessen und holte eine Coladose aus dem Kühlschrank.
Irritiert beobachtete Anne ihren Sohn. Hatte sie dieses unrasierte, unappetitliche, schlecht erzogene und selbstmitleidige Monster zur Welt gebracht? Undenkbar! Er kam eben nach seinem Vater. Dem hatte sie auch erst einmal beibringen müssen, dass man sich nicht halb nackt an den Tisch zum Essen setzte. Seine Schlechte-Laune-Attacken und sein Selbstmitleid allerdings hatte sie Wolf nicht austreiben können. Mein Sohn, dein Sohn: Das war über Jahre ihr Spiel gewesen, ein Spiel im Wortsinne, spaßig und komisch und auch ein bisschen kämpferisch – kam Edward nach ihr, und Pavel nach ihm?, hatte der eine seine schlechten Angewohnheiten von ihr und der andere seine Talente von ihm?, besaß Anne die bessere Erziehung und Wolf die besseren Gene? Sie neckten sich mit diesen Fragen und ärgerten sich manchmal auch damit, sie nutzten es als Waffe ab und zu, meistens aber, und unter dem Strich waren ihre Söhne immer ihrer beider Kinder gewesen. Sie hatten gute Kinder. Daran gab es nichts zu rütteln. Und darauf konnten sie stolz sein. Das blieb ihnen, auch wenn nun die Ehe am Ende war: Nicht alles war schlecht gewesen, vieles sogar gut, sehr gut, und das Beste daran waren die drei Jungs.
Sie empfand Stolz bei diesen Gedanken, und sie strubbelte dem grimmig guckenden Pavel den Kopf. Pavel grinste zufrieden. So liebte er es. Hotel Mama.
«Ich geh schnell pinkeln!», erklärte er fröhlich.
«Von mir aus auch langsam. Und putz dir die Zähne ...» Sie sah ihm nach, wie er barfuß aus der Küche watschelte.
Zufrieden trank sie einen Schluck Tee, legte dann Sets auf den Küchentisch, stellte Frühstücksteller und einen Kaffeebecher, Marmelade, Honig und Butter dazu. Dann kamen das Besteck und die Stoffservietten, die in Silberringe gerollt waren, auf denen die Initialen der jeweiligen Familienmitglieder eingraviert waren, Geschenke von Annes Eltern. Aus dem Brotkorb nahm sie das halbe Bauernbrot heraus, schnitt zwei Scheiben ab und steckte sie in den Toaster. Dann setzte sie Kaffee für Pavel auf. Als das geröstete Brot fertig war, nahm sie es aus dem Toaster und ließ es kalt werden. Pavel hasste warmes Brot und zerlaufene Butter. Sie riss die Krabbenpackung auf, schüttelte die Krabben in eine Glasschüssel mit blauem Rand und arrangierte sie zu den anderen Sachen. Die Mayonnaise hatte
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