Die Albertis: Roman (German Edition)
(längst aus dem Haus), ihr Mann, Proktologe am Klinikum Rechts der Isar, nicht, und Anne schon gar nicht. Sie hisste grundsätzlich die kleine weiße Friedensfahne, wenn sie mit ihrer Schwester sprach. Obendrein war Ingrid noch erprobt darin, anderen ein schlechtes Gewissen zu machen.
«Mei!» Ingrid hatte sich, obwohl sie Bremerin war, eine klitzekleine bayerische Färbung ihrer Sprache zugelegt. Sie schien nachzudenken. «Aber Paps und Mutti hast du hoffentlich nichts gesagt, oder? Die Armen. Die fallen uns tot um. Erinnere dich daran, wie du damals mit Wolf angekommen bist, nicht wahr, sie waren ja von Anfang an dagegen, aber du hast es ja so gewollt ... und überhaupt, wie soll das denn weitergehen?, hast du dir das gut überlegt? Lieber Gott nochmal, Luis, der ist doch sowieso so ungefestigt! Eine Kundin von mir, USA-Fan war die, jedes Jahr eine Reise rüber, immer First-Class-Hotels, sehr anständige Leute dachte ich, die hatte einen Buben, auch so ein Typ wie Luis, die ist im Urlaub fremdgegangen, und dann ist der Mann mit einem Küchenmesser auf sie los, und das Ende muss ich dir ja wohl nicht erzählen. Gott hab sie selig. Was sagen denn deine Söhne dazu? Und nun ist er auch noch ausgezogen, ach du Schande! Seit wann geht denn das? Paul, war das nicht dieser Arzt, der ständig rummacht? Also, Anne, ich bitte dich, nicht wahr, das kennt man doch, irgendwann musst du es ihnen natürlich sagen. Aber erwarte nicht, dass ich dir beispringe. Da halte ich mich völlig raus, ich war ja schon früher immer der Buhmann, wenn es um dich ging ... na ja. Ich habe doch Recht, oder? ...»
Und so weiter und so fort. Anne hatte den Hörer vom linken an das rechte Ohr gelegt. Links gingen ihr Ingrids Tiraden immer direkt ins Herz, rechts konnte sie es besser anhören, so als läge ein Schutzfilter dazwischen. Aber etwas stimmte an dem, was ihre Schwester gesagt hatte. Sie musste dringend mit den Eltern reden. Das konnte unmöglich am Telefon geschehen.
Unter einem Vorwand lockte sie die beiden nach Hamburg. Seit Jahren unterhielt ihr Vater, dank Annes Vermittlung, ein kleines Aktiendepot bei Ebbas Bank. Obwohl das Vermögen eigentlich zu gering war, hatte Ebba sich aus Freundschaft bereit erklärt, das Geld von Ernst Hofmann zu verwalten. Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, kam er, ein schmaler, kleiner Pensionär, adrett gekleidet mit grauem Flanellanzug, Staubmantel, keckem Hut und Aktentasche unterm Arm, angereist und besuchte sein Geld, wie er sich ausdrückte. Mit Riesenbrimborium wurde jedes Mal vorab das Treffen mit Ebba arrangiert – Anne, Ebba und die halbe Bank waren daran beteiligt, den Termin zu planen, zu verschieben, festzulegen. Ihm kam überhaupt nicht in den Sinn, dass es für Ebba eine Gefälligkeit und er im Grunde nur ein kleiner Fisch bei dem großen Institut, das weltweit agierte, sein könnte. Für dieses Geld hatte er hart gearbeitet. Hatte es sich, wie er oft betonte (und er liebte es, über Geld zu reden), «vom Munde abgespart». Von unserer aller Münder, dachte Anne dann immer. Es war ihm mehr wert, als es wert war. Das Geld gab ihm Sicherheit und Selbstbestätigung, er kokettierte mit dem Wort «Notgroschen» und dachte in Wahrheit doch, er verfüge über ein Vermögen. Er nutzte es als Spielball – für sich und gegen andere. Es bedeutete Unsterblichkeit für ihn, war Macht und Drohmittel gleichermaßen, vor allem gegen die Töchter. «Lässt sich jederzeit umfummeln!», erklärte Ernst Hofmann gerne ungefragt. «Mein Testament. Ihr müsst nur was sagen!» Mit anderen Worten: Seid gefälligst brav, sonst enterbe ich euch! Das war seine Art, die Macht nicht abgeben zu müssen.
Annes Vater hatte eine wahre Banken-Odyssee hinter sich. Überall hatte er sich im Streit von den Geldinstituten verabschiedet. Mal waren die Zinsen zu mager, mal der Mann an der Kasse frech gewesen, mal zogen sie ihn angeblich über den Tisch mit zu hohen Gebühren, mal kam nicht genügend rüber. Ein tiefes Misstrauen prägte sein Verhältnis zu Banken. «Die leihen dir einen Regenschirm», war eine stehende Rede von ihm, «wenn die Sonne scheint, und wenn es dann regnet, nehmen sie ihn dir wieder weg.» Erst nachdem Ebba sich seiner Sache angenommen und die Aktien in Festverzinsliche umgeschichtet und ihm eine satte Rendite von über zehn Prozent beschert hatte, war er zufrieden.
So kam er, gemeinsam mit seiner Frau Doris, also an jenem Märztag mit dem Intercity am Hamburger Hauptbahnhof an, wo Anne
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