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Die Albertis: Roman (German Edition)

Die Albertis: Roman (German Edition)

Titel: Die Albertis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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länger hier verweilen, Anne?»
    Sie überging ihn: «Wir schaffen das schon, was Mutti?»
    »Na ja, eine Flasche wäre ja nun nicht gleich nötig gewesen!», meinte ihre Mutter.
    «Ich lade euch ein!»
    «Ist der Reichtum ausgebrochen im Hause Alberti?», fragte ihr Vater.
    Nachdem Herr Nährig die Getränke serviert hatte, bestellten sie das Essen. Ernst Hofmann wollte ein argentinisches Filetsteak mit Bratkartoffeln, seine Frau Tartar, Anne entschied sich für Seezunge mit Salat.
    «Und?», fragte Annes Vater, umfasste die Silbergabel, klopfte mit der Laffe auf die Tischdecke und guckte seine Tochter streng an. «Worum geht's? Warum sitzen wir hier?»
    Seine Frau knuffte ihm in die Seite: «Ernst! Nun sei mal gemütlich!»
    «Ich habe doch nur gesagt: Worum geht's? Wir sitzen hier seit einer Stunde in diesem ...», er blickte sich erneut im leeren Restaurant um, «... diesem Hotel, wo ein Filetsteak zweiundfünfzig Mark kostet. Das muss man sich mal vorstellen: Zweiundfünfzig Mark für ein Stück Fleisch, bei dem ich nicht sicher sein kann, ob ich nächste Woche an Rinderwahnsinn erkranke ...»
    Anne unterbrach ihren Vater lächelnd: «Man wird keinen großen Unterschied feststellen. Falls du daran erkranken solltest.»
    «Was soll das heißen?»
    «Streitet euch nicht.» Annes Mutter sah die beiden abwechselnd an. «Wir sehen uns so selten. Lasst uns friedlich sein.»
    «Doris! Ich bitte dich!» Er trank einen großen Schluck Bier. «Wir setzen uns eine Stunde in den Zug, mein Gott, kommen von Bremen hierher, ich erledige meine Banksachen, wir könnten bei unserer Frau Tochter zu Hause sitzen, wenn sie nur Lust hätte, uns zu bekochen, nicht wahr, und wir könnten unsere Enkel mal wieder sehen, aber sie scheinen kein Interesse zu haben an ihren Großeltern, na ja, wir gehören ja auch zum alten Eisen.» Er hüstelte. Annes Mutter hob an, etwas Freundliches zu sagen, aber niemand unterbrach Ernst, höchstens er sich selbst. Ruhe. Setzen. Zuhören. Anne war sich sicher, dass ihr Vater allabendlich in ein Heft Noten verteilte für Menschen, mit denen er den Tag verbracht hatte, und sie war sich ebenso sicher, dass sie niemals über eine Vier hinauskommen würde, heute ging es eher in Richtung Fünf.
    «Paps, ich wollte ...»
    Er streckte seinen Männerzeigefinger in die Luft. «Wenn ich das mal eben zu Ende ausführen darf: Wir sitzen also hier, weil es heißt, unsere Frau Tochter, sie habe etwas mit uns zu bereden, in diesem Restaurant, wo ein Filet zweiundfünfzig Mark kostet, nicht zu reden von diesem Wein, und ich gedenke, heute Abend wieder zurückzufahren, und zwar mit dem Gefühl, das ich weiß, was los ist, warum wir uns die Mühe machen mussten, nach Hamburg zu kommen, und nun frage ich: Worum geht's?»
    Es war immer dasselbe mit ihrem Vater. Er war ungeduldig und tyrannisch. Er hatte sein Leben dazu benutzt, seine Töchter und seine Frau zu terrorisieren.
    Seltsam, sie liebte ihn dennoch. Seine Liebe und sein Urteil waren ihr wichtig. Sie wollte ihn einweihen. Mehr noch, als dass ihre Mutter es erfuhr. Sie wünschte sich, verstanden zu werden. Und ihr war klar, dass sie, eine Frau von fast vierzig Jahren, Mutter von drei Söhnen, an diesem Abend sich nur dies wünschte: dass er, wenn er die ganze Wahrheit erfahren hatte, seine Liebe nicht entziehen und ihr verzeihen würde, dass er ihr die Absolution erteilte, ihr seinen Segen gab.
    Er war jetzt sechsundsechzig Jahre alt, er ging glatt für Ende fünfzig durch, ein ergrauter Beamter in einem Anzug, der billiger gewesen war, als er ihn sich hätte leisten können. Ein Mann mit Bildung, aber ohne Charme. Einer, dem man, so fand Annette, ansah und anmerkte, jede Sekunde und jeden Zentimeter, dass er die vergangenen Jahrzehnte als Studienrat verbracht hatte: Diese Haltung zwischen Auftrumpfen-Wollen und Sich-beugen-Müssen, diese Resignation in den Augen, die sich abwechselte mit Kampfesblitzen, dieser Mund, verkniffen ein wenig, geformt davon zu bestimmen, sein ganzes Wissen anderen zu vermitteln mit dem andauernden Vorwurf: Warum seid ihr eigentlich alle so blöd?
    Bisher hatte sie immer geglaubt, sie habe alles unter Kontrolle. Eine andere Art von Kontrolle als die, die Wolf ausgeübt hatte. Die Kontrolle des Ganzen. Sie hatte sich immer als Chefin im Hause Alberti gesehen. Eine Chefin, die alles über ihre Mitarbeiter wusste. Die sie lenkte, die sie bestimmte, die anordnete, was zu tun und zu lassen war. Und nun stand sie da, und alles schien ihr

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