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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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Hippokrates vier Jahrhunderte vor der Zeitwende erkannt hatte.
    Die Zeichen der Natur wurden erst durch das Übel offenbar, das sie bei übermäßiger Einnahme anrichteten. Somit lag die gesamte Heilkraft der Natur vor ihm wie ein offenes Buch. Nun musste man nichts weiter tun, als dies am gesunden Menschen zu erproben und die entstandenen Symptome niederzuschreiben.
    |258| Das waren die Dinge, die zählten, und da galt es, hartnäckig zu sein und voranzuschreiten, ohne zurückzusehen und sich auf dem Geleisteten auszuruhen. Er musste voran.
     
    Der Herzog hatte ihnen den Aufenthalt bis zum 1. Juli gestattet. Zur Feier des Tages bereitete Henriette einen herrlichen Rinderbraten, den sie in dem Raum auftragen wollte, wo Hahnemann zuweilen mit dem Geheimen Kanzleisekretär gespeist hatte. Der Duft des Fleischs zog durch die Räume und ließ Hahnemann das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er überlegte, ob er nicht doch besser daran täte, noch ein paar Tage hierzubleiben, sich von seiner Frau umsorgen zu lassen und sich um seinen Bericht zur Heilung Wahnsinniger zu kümmern, statt dem Verleger Crusius in Leipzig einen Besuch abzustatten, um ihm den ersten Teil des Apothekerlexikons zur Ansicht vorzulegen.
    Aber er hatte es entschieden. Und nun, da er wieder daran dachte, begann sein Herz heftig zu klopfen. Denn er würde mit dem Besuch beim Verleger auch einen Abstecher zur Irrenanstalt verbinden.
    Er hatte oft an den jungen Mann denken müssen, der dort unter so erbärmlichen Umständen eingekerkert war. Er hatte sogar einen Brief nach Königsberg geschickt, um dessen Angaben zu überprüfen, aber nie Antwort erhalten. War das ein Zeichen, dass der Direktor der Anstalt recht hatte und der junge Mann in seinem Wahnsinn Dinge erfand, die nicht der Wahrheit entsprachen?
    Nun, er würde es herausfinden.
    Eine Idee schoss durch seinen Kopf. Sie war nahezu bestechend. Nun, da er ausgewiesener Irrenarzt war, konnte er um die Herausgabe des jungen Mannes bitten, um an ihm die Wirksamkeit der neuen Methoden zu erproben. Er würde sogar dem Direktor in Aussicht stellen, ihn in einer seiner Schriften lobend zu erwähnen, wenn er ihm den Eingesperrten überließ.
    Vielleicht wäre es von Nutzen, wenn er den Bericht über Klockenbring doch noch vor seiner Abreise fertigstellte. Hahnemann lief ins Arbeitszimmer, um damit zu beginnen. Das würde |259| Eindruck machen, und man würde ihm seine Bitte nicht verwehren können.
    Als Henriette ihn zum Essen rief, war er gerade dabei, Klockenbrings Ankunft in Georgenthal zu beschreiben. Er entsann sich noch gut, als dieser im Frühjahr des vergangenen Jahres in trauriger Verfassung eingetroffen war und, von drei starken Männern begleitet, sein Zimmer bezog.
    Der Federkiel glitt rasch über das Blatt. Hahnemann beschrieb die Wunden, die der Geheime Kanzleisekretär mitbrachte und die er unter Tränen zeigte: die Schwielen von den Stricken, die seine vorherigen Wächter dazu nutzten, ihn im Zaum zu halten. Hahnemann wollte sich gerade erheben, um Henriettes drittem Rufen zu folgen, da fielen ihm die eigenartigen Verhaltensweisen ein, mit denen Klockenbring anfänglich alles, was er tat, begleitet hatte, und er tauchte die Feder in das Tintenfass, um die Erinnerungen festzuhalten: seine Angewohnheit, Bannformeln gegen böse Geister zu sprechen, magische Quadrate in den Sand zu malen, sich mit einem Kranz aus Grashalmen, Stroh oder Blumen zu schmücken und eine Art Gurt um die Hüften zu legen, selbst wenn er nackt war, was leider nur selten verhindert werden konnte. Seine Fixierung auf die Zahl drei, sei es beim Falten eines dreieckigen Betttuches, bei der Entzauberung durch dreimaliges Spucken oder dem dreifachen Kreuzzeichen über Speisen und Kleidungsstücken.
    Klockenbrings Wahn stand ihm nun, da er alles niederschrieb, wieder genau vor Augen, die Feder kratzte über das Papier, mehrmals musste er die Tinte nachfüllen.
    Als Hahnemann schließlich damit begann, die Theaterstücke zu notieren, die Klockenbring fehlerfrei zu rezitieren vermocht hatte, bemerkte er, dass es allmählich dunkel wurde und er besser ein Licht anzünden sollte. Erst da fiel ihm auf, dass Henriette aufgehört hatte zu rufen, und als er in den Speisesaal kam, in dem der Braten aufgetischt werden sollte, fand er einen einsamen Teller mit kaltem Fleisch. Henriette hingegen war nirgends zu finden.

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JENA
5. MAI 1793
    Allmählich begann der Frühling seine Spuren zu verbreiten. Die Bäume waren in liebliches Grün

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