Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Seite, während sie immer wieder zurückblickte.
Hufeland begann als Erster zu sprechen. »Was war das? Sie sind ja ganz bleich!«
»Etwas hat mich am Haar berührt!« Sie schluchzte heftig. »Dieses Wimmern. Es klang wie ein Tier.« Dann brach sie in Tränen aus. »Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Ort. Wir haben mit unserer Anwesenheit die Dämonen erweckt.«
»Es gibt keine Dämonen«, flüsterte Hufeland beruhigend, aber seine Stimme bebte. »Vielleicht war es ein Tier, eine Katze, oder es |291| war ein Vagabund, der in den Räumen Zuflucht suchte.« Er nahm sie in den Arm und strich ihr sanft über den Rücken, den Blick in Richtung des alten Rittergutes gewandt. Eine Weile standen sie schweigend beieinander, mit klopfendem Herzen. Schließlich mahnte er zum Gehen.
Sie überquerten die Brücke bis zum anderen Ufer der Saale. Hand in Hand. Vor der Brücke über den Mühlgraben blieb er stehen.
»Sie gehen jetzt allein in die Stadt zurück. Ich werde Ihnen erst in einigem Abstand folgen.«
»Warum tun wir das?«, fragte sie und suchte seinen Blick.
»Es ist sicherer so.«
»Sehen wir uns wieder?«
»Wann immer Sie wollen. Ich bin da, wenn Sie mich brauchen.«
Ein letztes Mal noch besuchte Helene das Grab im hinteren Teil des Friedhofs, als Tribut für all die Stunden, die sie hier verbracht hatte. Sie legte einen Strauß frischer Maiblumen nieder und verabschiedete sich von dem Fremden, der hier begraben lag, wie von einem Freund.
Dass jemand ihr folgte, bemerkte Helene erst, als der bärtige Mann nun zum zweiten Mal abrupt innehielt, da sie hinter sich sah. Die Straßen waren belebt, Fuhrwerke rumpelten vorbei, und als sie sich ein drittes Mal umdrehte, war er verschwunden.
Während sie unschlüssig war, ob sie den direkten Weg zu ihrer Wohnung nehmen sollte, kam ein anderer Mann langsam die Straße hinab, den üppigen Bauch in einen engen Justaucorps gezwängt, die Füße in Schuhen mit altmodischen Absätzen. Er lächelte sie an. Helene schrak zusammen. Sie dachte nach, was nun zu tun sei, und bevor der Mann sie erreicht hatte, wandte sie sich um und bog in das Mühlgässchen. Von dort aus würde sie über die Lautergasse und Hinter der Rinne direkt am Kollegiengebäude vorbei nach Hause kommen.
Kaum aber hatte sie ihren Weg gewählt, fiel ihr auf, wie leer diese Gasse zur Mittagszeit war. Wäre es nicht besser gewesen, sich an |292| dem Mann vorbeizudrängen und den Weg über den belebten Markt zu nehmen? Sie beschleunigte ihre Schritte, die durch die Gasse hallten, ein warmer Wind fegte durch klaffende Löcher der Stadtmauer. Helene schauderte und wandte sich um, doch da waren nur Schatten und Wind.
Es war nicht grundlos, dass sie diesen Weg seit Jahren nicht mehr gegangen war, dachte sie, als sie sich dem Haus des verstorbenen Theologieprofessors näherte. Mit gesenktem Kopf eilte sie vorüber, versuchte, die Erinnerungen herunterzuschlucken, als sie glaubte, Schritte hinter sich zu hören. Sie drehte sich um, es war der bärtige Mann, nun begann sie zu rennen. Auch er beschleunigte seine Schritte, dabei zog er ein Bein nach. Er fuchtelte mit den Armen und rief ihr etwas nach, als sie in die Kollegiengasse einbog, am Universitätsgebäude vorbei.
Das Haus am Ende der Straße war ein tröstlicher Anblick. Nur noch wenige Schritte, und sie war zu Hause. Nun war es ihr gleich, ob er sah, wo sie wohnte, sie wollte hinein, die Tür hinter sich verriegeln.
Mit zitternden Händen drehte sie den Knauf, lief die Treppe hinauf und schloss die Tür zur Wohnung auf. Dann schob sie eine schwere Truhe davor, dazu einen Stuhl, lief in die Stube, sah aus dem Fenster.
Von weitem konnte sie den Herrn im engen Justaucorps sehen, der ihr lächelnd entgegengekommen war, nun führte er eine Frau am Arm, die ihr üppiges Dekolleté mit einem Tuch bedeckte und beständig auf ihn einredete.
Helene atmete aus. Wenn dieser Mann sie nicht verfolgt hatte, war die Verfolgung des Bärtigen, der vielleicht nur denselben Weg hatte, ebenfalls nichts als Einbildung? Sie lächelte, schimpfte über ihre Furcht, rieb ihre zitternden Hände und wollte sich soeben abwenden, als sie spürte, dass sie jemand beobachtete.
Langsam drehte Helene den Kopf. Neben dem Brunnen stand der bärtige Mann und starrte hinauf zum Fenster. Er war gekleidet wie ein Bettler, die Haare kurz geschoren, verbitterte Züge, die Augen weit und groß. Dann, plötzlich, erkannte sie ihn und erschrak, als habe sie einen Geist gesehen.
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