Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
ungerührt.
Doch Hahnemann schüttelte vehement den Kopf. »Sie ist überaus wertvoll, ein Geschenk des Fürsten. Ein Wärter würde sie womöglich bei sich behalten.«
Sie eilten suchend zu den Gängen bei den Zellen, dann gab Hahnemann vor, die schlechte Luft nicht zu vertragen, und der Direktor bot sich an, noch einmal genauer nachzusehen.
»Sollte aber eine der Irren danach geschnappt haben, so kann es sein, dass wir sie erst in deren Mägen wiederfinden«, sagte er.
Hahnemann lief in den Raum, in dem der Direktor ihn empfangen hatte, und begann sogleich, die zusammengebundenen Papiere aus den Regalen zu nehmen und zu lesen.
Sie waren nach Jahreszahlen geordnet. Hahnemann fluchte, als er feststellen musste, dass die Reihenfolge der Patientenakten den Jahren ihrer Einweisung entsprach. Welch kranker Kopf hatte sich diese Ordnung ausgedacht, wie wollte man neue Eintragungen zum Patienten machen, wenn man erst wissen musste, wann er in die Anstalt gekommen war?
Hektisch schnürte er ein Bündel nach dem anderen auf, blätterte |296| Jahr für Jahr durch, verband den Packen wieder mit der Kordel und stellte ihn ins Regal zurück. Die Zeit lief. Er fluchte abermals. Wann zum Henker war Steinhäuser eingeliefert worden? Wie lange konnte man in einer derartigen Anstalt überleben?
Die Tür wurde aufgerissen, Hahnemann wirbelte herum, lehnte sich gegen den Tisch und versuchte, die herausgezogenen Papiere zu verdecken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Ein Wärter steckte den Kopf hinein und fragte nach dem Direktor.
»Er ist im hinteren Trakt und sucht nach meiner Taschenuhr«, antwortete er atemlos. »Ich habe sie wohl dort verloren.«
»Und warum helfen Sie ihm nicht dabei?«
Hahnemann legte die Hand auf die Brust und machte ein gequältes Gesicht. »Die Luft dort … Das ist nichts für mich.«
Der Wärter knurrte etwas Unverständliches und verschwand wieder.
Hahnemann atmete aus. Nun musste es schnell gehen. Ein Packen nach dem anderen landete auf dem Tisch, wurde mit bebenden Fingern durchgesehen und zurückgestellt. Dann, endlich, im Jahre 1780, sah er den Namen auf einem Blatt.
Albert Steinhäuser, eingeliefert am
28
. Oktober
1780
.
Erstaunt las er den Namen des Arztes, der die Einlieferung angeordnet hatte: Professor Christian Gottfried Gruner aus Jena. Der Stadt, in der der Verfasser der Schrift studiert hatte, in der es um die Rezeptur des Lebenselixiers ging.
Als er nur wenig später mit klopfendem Herzen im Einspänner saß und das Pferd zur Eile antrieb, bemerkte er, dass er zwar das Dokument der Einweisung eingesteckt, aber seine eigenen Papiere, den gefälschten Brief und den soeben erst verfassten Bericht über die Heilung des Geheimen Kanzleisekretärs Klockenbring, bei seinem überstürzten Aufbruch hatte liegen lassen. Wütend trieb er das Pferd mit den Zügeln an. Er konnte nicht zurückkehren. Weder zur Anstalt, um die Papiere zu holen, noch nach Georgenthal, wo seine Familie wartete. Sein Weg würde ihn nun nach Jena führen.
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JENA
11. MAI 1793
Die Nachricht verbreitete sich in der Stadt wie ein Lauffeuer. Vor dem ansonsten so spärlich besuchten Anatomieturm standen die Burschen Schlange, und obwohl die Zeiten, in denen jeder gegen Zahlung eines Eintrittspreises im Anatomischen Theater Platz nehmen durfte, längst vorbei waren, sah man auch einige Philister, die sich unter die Studenten gemischt hatten.
Die Zerlegung einer Leiche war noch immer eine Sensation. Nur wenige waren bereit, ihren Körper nach dem Tod wissenschaftlichen Studien zur Verfügung zu stellen. Auch Hufeland hatte seine Furcht vor dem Scheintod und der damit verbundenen Sorge, bei lebendigem Leibe auf dem Seziertisch zerlegt zu werden, nie verlieren können. Obwohl, wie Loder stets betonte, der tote Körper zu nichts mehr nutze war, als den Würmern zur Speise und Mutter Erde als Dünger zu dienen.
Nun aber hatte sich jemand finden lassen, und man musste rasch mit der Sektion beginnen. Denn die Temperaturen waren ungewöhnlich warm für einen Maitag und der Leichnam zeigte schon erste Zeichen der Verwesung.
Die Tatsache, dass der Körper, der noch unter einem Tuch verhüllt lag, einer Frau gehörte, die in ihren jüngeren Tagen ihre Dienste im Rosmaringässchen feilgeboten hatte und nun ihren Körper ein allerletztes Mal zur Schau stellen würde, tat ihr Übriges, dass sich der Saal rasch füllte.
Die Studenten der Theologie scharten sich seitlich des Eingangs, leise diskutierend, ob sie in
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