Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
8
LEIPZIG
10. MAI 1793
Die Anstalt sah noch genauso aus wie knapp anderthalb Jahre zuvor. Und auch der Direktor war noch derselbe.
Er wirkte erstaunt, als er das schwere Tor öffnete und ihn hineinbat.
»Waren Sie nicht der Doktor, der unsere Räume vor einiger Zeit besichtigte, um einen Herren von Stand anzumelden?«, fragte er und gab sich keinerlei Mühe, sein Misstrauen zu verbergen.
»So ist es.« Samuel Hahnemann stellte sich noch einmal vor und reichte ihm die Hand. Er hatte sich auf dem Weg die Worte zurechtgelegt, mit denen er den Direktor überzeugen wollte, doch was wäre überzeugend genug, um einen Irren freizubekommen und gleichzeitig eine konkurrierende Heilmethode zu loben? Also hatte er sich entschlossen, sich auf eine List zu verlegen, und so trug er einen Brief bei sich, den er zwar hatte fälschen müssen, doch in diesem Fall diente die Notlüge einem christlichen Zweck, und der heiligte bekanntlich die Mittel.
Auch das Zimmer, in das Ferdinand Hartlaub ihn führte, hatte sich kaum verändert. Ein Tisch, vier Stühle, der Schrank mit von Lederbändern zusammengehaltenen Papieren. Nun war noch ein großer Strauß Blumen hinzugekommen, der indessen vertrocknet war und in diesem kargen Raum auf eigentümliche Art verlassen wirkte.
»Ich möchte den Patienten Albert Steinhäuser sehen«, begann Hahnemann ohne einleitende Worte, kaum, dass sie sich gesetzt hatten.
Der Direktor runzelte die Stirn. »Albert Steinhäuser? Nun, das ist ein eigenartiger Zufall, denn eben dieser Mann ist nicht mehr hier.«
»Nicht mehr hier? Warum, in Gottes Namen?«
|294| »Auf eine uns unbekannte Weise hat er es verstanden, aus seiner Zelle zu fliehen.«
»Wie ist das möglich?«
»Ein Wärter hat die Tür wohl nicht recht verschlossen, und er schlich sich davon.«
»Wann war das?«
»Vor wenigen Wochen.«
»Als ich ihn das letzte Mal sah, trug er Fußketten!«
»Man weiß nie, was sich diese Irren alles einfallen lassen, wenn man nicht höllisch aufpasst. Und wer weiß? Vielleicht hatte er ja Hilfe aus dem Reich der Dämonen? Das ist schon möglich bei solchen Kreaturen!« Er lachte, als habe er einen guten Scherz gemacht.
Hahnemann schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich habe hier ein Schreiben seines Vaters, das mich dazu befugt, ihn abzuholen. Zudem steht es mir zu, den Patienten zu beurteilen, hier ist ein Bericht, der mich als Irrenarzt ausweist!« Und er warf die Papiere auf den Tisch, den gefälschten Brief des Königsberger Apothekers und seinen Bericht über die Heilung Klockenbrings.
»Ich sehe, Sie glauben mir nicht«, sagte der Direktor konsterniert. »Aber folgen Sie mir doch, ich werde es Ihnen beweisen.«
Der Gestank des hinteren Traktes erschien Hahnemann noch unerträglicher als zuvor. Sich ein Tuch vor die Nase haltend, ging er geradewegs auf die Zelle zu, in der sich Albert Steinhäuser befunden hatte. Sie war voller Frauen, die man hier nun eingesperrt hatte. Sie schrien auf, als sie ihn sahen, und griffen mit dürren Armen durch die Stäbe. Hahnemann wandte sich hastig ab und ging weiter.
Aber wo Hahnemann auch nachsah, in den Zellen, im Garten, in der Kapelle, Albert Steinhäuser war nirgends zu finden.
Fieberhaft überlegte er, was zu tun war. Wenn er nur herausfinden konnte, wohin man ihn gebracht hatte. Er glaubte nicht an eine Flucht. Er drehte sich zum Direktor, der ihm auf dem Fuß gefolgt war, und machte seinem Unmut Luft: »Die Wände sind aus massivem Stein, selbst wenn er die Ketten abzuschütteln vermochte, wie |295| hätte er durch die Pforte fliehen können, die Sie doch stets verriegeln, wie über die Mauer des Grundstücks?«
»Da fragen Sie mich zu viel«, antwortete dieser mit betontem Gleichmut. »Sie können sich vorstellen, dass wir außer uns waren, als wir sein Entkommen bemerkten.«
Hahnemann schnaubte. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder man hatte ihn in ein finsteres Kellerloch gesperrt, das seiner Aufmerksamkeit entgangen war, oder man hatte ihn an einen anderen Ort gebracht. Denn wenn die Geschichte, die Albert Steinhäuser ihm erzählt hatte, der Wahrheit entsprach, dann war er für einige Personen von allergrößter Wichtigkeit.
Sie waren bereits auf dem Weg zum Tor, als Hahnemann auf seinen Hosenbund klopfte und rief: »Meine Taschenuhr! Ich muss sie irgendwo verloren haben. Ich würde nur ungern ohne sie gehen, wenn Sie so gut wären und mir suchen helfen würden?«
»Ich werde den Wärtern Bescheid geben«, sagte Ferdinand Hartlaub
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