Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
förderlich war, die
aurae mediocritas
|329| des Horaz. Eigentlich war es eine simple Erkenntnis, die seiner Meinung nach jedoch zu wenig Beachtung fand. In der Mittelmäßigkeit des Standes, des Klimas, des Temperaments, der Leibeskonstitution, der Geschäfte, der Geisteskraft oder der Diät lag das größte Geheimnis, äußerst alt zu werden. Alles Extreme, sowohl das Zuviel als auch das Zuwenig, verhinderte ein längeres Leben. Er hatte das Beispiel eines Mannes vorgebracht, der in einem Dorf in Norwegen in der Nähe von Bergen beinahe das hundertsechzigste Jahr erreicht hatte, und angefügt, dass dieser mehrfach verheiratet gewesen sei. Ohnehin war die Ehe ein förderliches Element, es hieß, keiner der Über-hundert-Jährigen sei ledig gewesen.
Endlich, seine Studenten hätten noch Stunden über diese Erkenntnisse diskutieren mögen, hatte er sich losreißen können und stand nun draußen, reckte sein Gesicht in die warmen Strahlen der Maisonne, atmete die Frühlingsluft. Dann lenkte er seine Schritte in Richtung Naturalienkabinett, das nur wenig vom großen Auditorium entfernt in den Räumen des alten Schlosses untergebracht war, zwei Stockwerke über der Büttnerschen Bibliothek. Die Zimmer, in denen sich die Sammlung befand, hatten große Fenster und wurden von herrlichem Licht durchflutet. Es warf einen Glanz der Erhabenheit über jene Dinge, die das Kabinett beherbergte und die man sonst in verstaubten Regalen vermutet hätte: Mineralien, ausgestopfte Vierfüßler und Vögel, in Spiritus aufbewahrte Embryonen, fremde und einheimische Knochenpräparate, darunter ein gewaltiger Elefantenschädel, mehrere Schildkrötenplatten und der Halswirbelknochen eines Wals. An den Wänden hingen Zeichnungen, die maßstabsgetreu die anatomischen Strukturen verschiedener Skelette abbildeten, und eine, die die Verwandtschaftsverhältnisse von Pflanzen darstellte, die
Carte botanique d’après Ventenat
.
Hufeland fand Dürrbaum, nun Aufwärter des Naturalienkabinetts, in einem der hinteren Räume, wo er das Skelett eines Tieres mit viel Geschick zusammensetzte, es mochte das eines Eichhörnchens sein oder das eines Wiesels.
Dürrbaum hob den Kopf, und Hufeland bemerkte, dass sich in den Jahren unter seinen Augen tiefe Fältchen gebildet hatten. Dennoch |330| schien er nur wenig älter geworden zu sein, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte, damals im Jahr 1780. Nun stand er auf. Er war groß, sein Rücken schien noch buckeliger geworden. Er hatte die Haltung eines Mannes, der sich seines Wuchses schämte und mit eingezogenen Schultern ging, um der Aufmerksamkeit zu entgehen.
»Professor Hufeland, wie schön, Sie zu sehen.«
»Die Freude ist ganz meinerseits. Ich hätte schon längst herkommen sollen, aber seit meiner Ankunft in Jena gab es dazu kaum Gelegenheit.«
»Sie sind ein gefragter Mann, und ich muss gestehen, Ihre Theorien zur natürlichen Verlängerung des Lebens haben mich sehr beeindruckt.«
»Sie waren in der Vorlesung?«
»Sie sehen mich an, als wäre das etwas Ungewöhnliches. Ihre öffentlichen Vorlesungen sind nach denen des Professor Schiller die größte Attraktion dieser Stadt. Ich habe jede von ihnen besucht. Sie sind ein guter Redner. Sie verstehen es, mit Ihren Worten zu begeistern, ohne dabei die Ernsthaftigkeit zu verlieren.«
Hufeland errötete. Er hatte Dürrbaum nie bemerkt.
Er fragte ihn, ob ihm seine neue Aufgabe gefiele, und erhielt eine persönliche Führung durch die Sammlung, die vor mehr als zehn Jahren um die Weimarer Naturaliensammlung erweitert worden war. Dürrbaum berichtete von den beeindruckenden Forschungen Goethes, der in diesen Räumen den
Os Intermaxillare
, den Zwischenkieferknochen, beim Menschen entdeckt hatte. Ein Meilenstein in der Geschichte der Anatomie, wie Dürrbaum betonte. Hufeland erinnerte sich an die Aufregung, die diese Entdeckung in Weimar ausgelöst hatte, galt doch das Fehlen jenes Knochens seit Vesalius, dem Begründer der neueren Anatomie, als elementarer osteologischer Unterschied zwischen Mensch und Tier. Der Mensch als Glied der Natur, nicht als deren Herrscher, das war eine große Entdeckung, mit der sich auch die neuen Philosophen befassten.
Das Gespräch verlief äußerst anregend, und schließlich fand |331| Hufeland den Mut, zum eigentlichen Grund seines Besuchs zu kommen. »Ich möchte«, setzte er zögernd an, »Sie gern zu den Vorkommnissen befragen, die mich vor Jahren aus der Stadt getrieben haben.«
»Ich dachte, Sie würden nie
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