Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Caspar eilte voraus, ohne sich umzusehen, und so folgte sie ihm durch den Torbogen hinaus.
»Was ist passiert?«, fragte sie endlich, während sie ihm durch die Gasse nachkam, in Richtung Stadttor. Sie machte sich Sorgen um ihn, und dennoch spürte sie nun Gefahr lauern. Gerade als sie entschieden hatte, Caspar nicht länger zu folgen, bog er in eine Seitengasse ab, drängte sie plötzlich in einen dunklen Hauseingang und presste ihr die Hand vor den Mund. Nur einen kurzen Moment lähmte sie der Schreck, dann riss sie die Lippen auseinander und schlug die Zähne in sein Fleisch. Caspar schrie auf und versetzte |388| ihr einen Schlag in den Magen, dass ihr die Luft wegblieb und sie sich zusammenkrümmte.
Schon waren die Hände wieder auf ihrem Mund. Dieses Mal klammerten sich die Finger um den Kiefer, wurden zu eisernen Klauen.
Helene trat um sich, doch ihr Gegner war stärker. Während Caspar versuchte, sie mit sich zu ziehen, fiel ihr Blick plötzlich auf einen Passanten auf der anderen Seite der Gasse, der ihre Bedrängnis beobachtete und, statt ihr zu Hilfe zu eilen, nur zufrieden lächelte und sich abwandte. Er war groß und hager, mit gebeugtem Rücken, und in einem entsetzlichen Augenblick erkannte sie, dass sie ihm schon einmal begegnet war: auf dem Friedhof, am Tage ihrer Ankunft.
Der Mann, der sich soeben an ihrer Furcht geweidet hatte, war derselbe, mit dem Christophs Schwager gesprochen hatte, bevor sie ihn nur wenige Tage später ermordet auffand. Sie erinnerte sich an Webers versteinertes Gesicht und an dessen plötzliche Veränderung. Er war dem Todesengel begegnet.
Die Angst übermannte sie. Jemand presste ihr ein Tuch auf Nase und Mund, sie atmete etwas Scharfes ein, rang nach Luft, kämpfte gegen das zunehmende Gefühl der Betäubung. Dann wurde es dunkel.
Als sie langsam wieder zur Besinnung kam und die Augen aufschlug, bemerkte sie, dass man sie festgebunden hatte. Ihr Körper wurde von Seilen auf einem glatten, kalten Untergrund gehalten, ebenso ihr Kopf. Etwas klebte auf ihrem Gesicht wie eine Maske, presste sich über Stirn und Kiefer.
Die Dunkelheit des Raumes wurde von Hunderten kleiner Lichtquellen durchbrochen.
Geräusche drangen an ihr Ohr, hier und da ein leises Wispern, das Scharren von Füßen. Jemand ging an ihr vorbei, und sie spürte den Luftzug über ihren Körper streichen.
Helene ruckte heftig mit dem Kopf und verdrehte die Augen, doch es war niemand zu sehen. Ihr Atem ging schneller. Sie ahnte, |389| wo sie sich befand. Und als sie nach oben zur Decke sah, wurde ihre Ahnung zur Gewissheit. Über ihr war das Bild des Mondes, dessen Augen sie im Flackern der unzähligen Flammen anstarrten. Sie lag auf dem Altar, nackt, und würde nun Teil eines grauenvollen Rituals werden, bei dem man ihr anscheinend das Erbarmen einer Betäubung verweigerte.
Sie schloss die Augen, dachte an Christoph. Er wusste, wo man nach ihr suchen musste. Doch würde er, vertieft in seine Sorgen, ihr Fortbleiben überhaupt bemerken?
»Salvum me fac Deus quoniam intraverunt aquae usque ad animam meam«, flüsterte sie. Gott, hilf mir, denn das Wasser geht mir bis an die Seele!
Hufeland stand im Foyer, die Hände in die Seiten gestützt, und sah durch die weit geöffnete Tür nach draußen. Er hatte mit Helene sprechen wollen, doch sie war nirgends zu finden.
Hahnemann hatte ihm erzählt, sie wolle in den Garten, doch auch dort war sie nicht, und wen er auch fragte, jeder war in den vergangenen Stunden mit anderem beschäftigt gewesen, niemand konnte ihm sagen, wo Helene war.
Schließlich hatte Hufeland das Personal in die Stadt geschickt, die Mägde, die Köchin, den Küchenjungen. Sie sollten nach ihr suchen, beim Hofbäcker Grellmann, in jedem Gasthaus und auf den Wegen außerhalb der Stadt. Er selbst würde hierbleiben und warten und hoffen, dass der furchtbare Schrecken, den sie ihm einjagte, nur ein Irrtum war.
Das war jetzt zwei Stunden her. Die Mägde und die Köchin waren zurückgekehrt, ohne jede Spur gefunden zu haben. Hufeland machte sich Sorgen. Selbst wenn Helene nur einen Spaziergang machte, seit Vogts Angriff mit dem Seziermesser war aus den vagen Spekulationen, sie könnten sich in Gefahr befinden, bittere Realität geworden. Nun würde es bald dunkel. Das letzte Licht hatte sich hinter die Berge verzogen, die bewaldeten Kuppen leuchteten rötlich. Ein Schwarm Vögel zog über den Himmel und tauchte ins Dunkel des fernen Waldes.
|390| Hufeland stöhnte leise auf. Die
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