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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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einfach losgelaufen, kopflos, immer weiter, bis die breiten Straßen zu engen Gassen wurden. Erschrocken hatte sie sich umgesehen. Statt von herrschaftlichen Straßenzügen war sie von stinkender Gosse umgeben, statt von vornehmen Häusern von hohen Gebäuden, die dem Tageslicht den Platz nahmen. Wohnung über Wohnung, dicht gereiht und ineinander verschachtelt. Wäsche hing zum Trocknen aus den Fenstern und wehte als hundertfaches Fähnchen, teils zerrissen und grau, im Wind.
    An einem kleinen Platz hatte sie innegehalten, ihren Durst an einem Brunnen gestillt und die schmerzenden Füße gekühlt. Auf dem Rand saß eine Frau, die ihr weinendes Baby wiegte und offenbar wieder guter Hoffnung war. Daneben hockte ein Mann, der laut mit einem imaginären Gegner disputierte.
    Immer mehr Menschen kamen hinzu, sammelten sich um den Brunnen zum abendlichen Plausch. Männer, in deren Gesichter sich Stumpfsinn und Verzweiflung gebrannt hatten. Familien, deren Kinder auf offener Straße stritten und ihren Müttern Frechheiten zuriefen. Handwerker, schlecht bezahlte Unterbeamte, Gehilfen, Prostituierte. Es war die Welt der Arbeit und des Jammers.
    Helene saß still und lauschte. Presste sich an den Brunnenrand und hoffte, unsichtbar zu bleiben. Sie wagte nicht, sich zu erheben, aus Furcht, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Welt, in deren Mitte sie sich nun befand, war ihr fremd und machte ihr Angst.
    Gegenüber wurde ein Lokal geöffnet, direkt neben dem mit stinkendem Schmutz gefüllten Rinnstein, in den sich vor wenigen Minuten ein Knabe erleichtert hatte. Der Platz begann sich zu leeren, |151| Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen strömten in die Branntweinstube, aus der bald wüste Lieder schallten, frivoles Gelächter, Streit und Geschrei.
    Helene schlang die Arme um den Körper. Wo sollte sie nur hin? Es wurde bereits dunkel, auf der Straße konnte sie nicht bleiben.
    Ein plötzlicher Stoß in die Seite schreckte sie auf. »He, weg da. Det is meen Platz!« Eine dürre Frau starrte sie böse an. »Komm inne Jänge, oder willste Dresche?« Sie war hohlwangig, und ihre Augen traten unangenehm hervor, und wenn sie sprach, entblößte sie eine Reihe schwarzer Zähne. Und doch schien sie nur wenig älter zu sein als sie selbst.
    »Ich mache nur Rast.«
    »Mir doch wurscht. Weg da!«
    Helene stiegen die Tränen in die Augen. Sie stand auf. »Dann sag mir wenigstens, wie ich von hier fortkomme!«
    Die Frau sah sie abschätzend an. Dann lächelte sie. »Ach, bist wohl zu fein für diese Jegend«, sagte sie. »Wohin willste denn?«
    »Ich muss weg. Gleich morgen früh will ich aus Berlin raus. Nach Jena.«
    »Haste wohl was ausgefressen, was? Biste erwischt worden?« Sie betrachtete Helenes Gesicht. »Dein Mund sieht übel aus. Und det Auge wird wohl morgen janz zujeschwollen sein.«
    Helene schwieg.
    Die Frau nahm einen Zipfel ihres schmutzigen Kleides und wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Nun komm schon. Ich hatte auch mal so einen feinen Fummel wie du. Aber dann hat mich Madame mit dem vornehmen Herrn erwischt.«
    Sie nahm ihre Hand und zog sie mit sich. »Hier kannste nicht bleiben, det ist viel zu jefährlich für son junges Ding wie dir. Kannst bei mir bleiben für eine Nacht.«
    »Bei dir?«
    »Ja, nu zier dir nich so, komm.«
    Helene folgte ihr am Lokal vorbei in einen Hinterhof, in dem abgemagerte Kinder spielten, dann eine steile, dunkle Treppe hinauf. Durch eine niedrige Tür kamen sie in eine Wohnung, die nur |152| aus Kochecke und Schlafkammer bestand. Die Frau zeigte auf ein Bett mit schmutzigen Decken, das beinahe den ganzen Raum einnahm.
    »Hier kannste bleiben, aber komm mir ja nicht in die Quere, wenn ick wieder da bin, hörste?«
    Helene nickte.
    »Und lass deine Finger von de Töpfe, och wenn de Hunger hast. Klau ja nischt, ick warne dir! Mein Meister wird dir finden, ejal, wohin du jehst, verstehste?«
    Sie nickte wieder.
    Die Frau sah sie an, schüttelte dann den Kopf. »Ick weeß och nicht, warum ick det mache, ick hab einfach ’n viel zu jroßet Herz. Na, watt soll’s, vielleicht bringts mich wieder ein Stück näher zum Himmel.« Sie streckte die Hand aus. »Mein Name ist übrijens Else.«
    Damit ließ sie sie allein.
    Von nebenan war wütendes Schreien zu hören, dann das Weinen eines Kindes. Helene setzte sich unschlüssig auf die Kante des Betts, die Reisetasche fest an sich gedrückt. Die Haut unter dem Auge pochte schmerzhaft. Sie war müde, und ihr war kalt. Durch das schmale

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