Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
die sie wissenschaftlich nannten.
Er dachte an den Abend, als Carl Lohenkamp sich ihm anvertraut hatte. Dieser hatte sich von den Martern befreien wollen, die seine Seele quälten, doch erst nachdem Weber die Hände zum Schwur auf die Bibel gelegt hatte, war es aus ihm herausgebrochen.
Was Lohenkamp ihm nur wenige Nächte vor dem Unglück erzählt hatte, hatte ihn zutiefst erschüttert. Es war, als seien dessen Qualen nun auf ihn übergegangen. Noch heute spürte er Lohenkamps Blick beim Erzählen des Ungeheuerlichen. Es war der Ausdruck eines Mannes, der zum ersten Mal in die Abgründe der menschlichen Seele hinabgeschaut hatte. Umso entsetzlicher, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen, Albert Steinhäuser mit Vorsatz zu erstechen.
Weber fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Durfte er weiter die Augen verschießen? Erst vor wenigen Tagen war er über den Friedhof gegangen und hatte die Reihen der frisch geschaufelten Gräber gezählt. Es waren weit mehr hinzugekommen, als man sich mit Krankheiten und natürlichem Tod erklären konnte. Zumeist waren es ältere Menschen aus den unteren Schichten. Und er fragte sich bei jedem Einzelnen, ob auch er an der Experimentierlust zugrunde gegangen sein mochte.
Weber atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Sollte er die Stadt vor den Blutsaugern warnen? Dem menschenverachtenden Treiben ein Ende bereiten? Was würde dann aus seiner Professorenstelle werden, aus Hannchen, aus dem Kind, das in ihrem Leib heranwuchs?
Er seufzte. Zuallererst galt es, den jungen Hufeland aus der Stadt zu schaffen, bevor noch Schlimmeres geschah.
|148| Leise stand er auf. In der Küche wartete Hannchen. Sie kam ihm entgegen, sah ihn besorgt an, die Hände auf ihrem gewölbten Bauch.
»Was ist mit Christoph?«
»Dein Bruder muss augenblicklich zurück nach Weimar.«
»Warum?«
»Es muss genügen, wenn ich dir sage, dass sein Leben in Gefahr ist.«
Hannchen schrie auf und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. »Was hat er getan?«
»Nichts, was ich nicht selbst längst hätte tun sollen.«
»Was meinst du damit? Ernst, sag mir, was vorgeht.«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich muss noch einmal fort. Wenn Christoph aufwacht, darf er das Haus auf keinen Fall verlassen.« Er sah sie eindringlich an. »Hörst du? Unter keinen Umständen. Wenn ich gehe, verriegelst du die Tür und machst erst auf, wenn ich zurück bin.«
Weber trat auf die Straße, den Mantel fest geschlossen. Der Morgenwind fuhr ihm ins Haar und ließ ihn frösteln. Links ein geöffnetes Fenster, aus dem Lärmen und Schelten drang. Er senkte den Kopf. Mit raschen Schritten eilte er in die Johannisgasse, zu dem Haus, in dem Hufeland sein Zimmer hatte.
Was er dort vorfand, übertraf seine schlimmsten Vermutungen. Die Kleidung, wohl aus dem Schrank gerissen, war nachlässig über einen Stuhl gelegt, ein seltsamer Apparat in sämtliche Einzelteile zerschmettert, notdürftig zu einem kleinen Haufen zusammengeschoben.
Mit bangem Herzen betrachtete er die Schlange aus getrocknetem Blut auf dem Holzboden. Dann erregte etwas auf dem Tisch seine Aufmerksamkeit. Er trat näher. Jemand hatte mit einem spitzen Gegenstand feine Buchstaben in die Holzplatte geritzt.
Velut aegri somnia, vanae fingentur species.
Bei genauerer Betrachtung fand Weber die Einkerbungen an einer Seite leicht geschliffen, als hätte ein Dolch oder ein Degen Regie geführt.
|149| »Gleich einem Kranken, der im Fiebertraum falsche Bilder erdenkt«, flüsterte er. Er verstand, was das bedeutete. Wenn Christoph Hufeland seinen Eid brach, würden sie versuchen, ihm das zu unterstellen, was hier in den Tisch geritzt stand: Fratzenträume, die Einbildungskraft eines Phantasiebegabten.
Weber spürte, wie die Wut in ihm aufstieg.
Im Schrank fand er einen kleinen Koffer. Hastig warf er die Kleidung hinein, dazu die verstreuten Aufzeichnungen, die wenigen Habseligkeiten, dann öffnete er die Tür des Zimmers.
Der Flur war leer. Von unten drang das laute Geschnatter zweier Frauen. Weber hob den Koffer an und stieg die Treppe hinab. Ungesehen gelangte er auf die Straße und mischte sich unter die Studenten, die zu ihren Vorlesungen strebten.
Er würde seine Vorlesung halten müssen, wenn er keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Morgen war Allerheiligen. Gleich nach dem Gottesdienst würde er Christoph nach Weimar bringen.
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BERLIN
31. OKTOBER 1780
Nachdem Helene Auguste von Rückertshofen niedergeschlagen hatte, war sie
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