Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Weber endlich sprach, hörte er seine eigenen Worte wie in weiter Ferne. Es gehe ihm gut, er müsse sich keine Sorgen machen. Mehr könne er dazu nicht sagen. Dann ließ er Vogt stehen, froh, dass die Glocken den Beginn des Gottesdienstes ankündigten.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, schritt Weber zu einem freien Platz in den vorderen Reihen und atmete auf, als der Pastor am hohen Altar stehend seine Worte an die Gemeinde richtete und vom endlosen Chor der Heiligen sprach.
Zwei Reihen vor sich entdeckte er Loder, dessen sorgsam gebundener Zopf auf und ab wippte, wenn er nickte oder wenn er seinen Kopf zu seinem Sitznachbarn drehte, in dem Weber Dürrbaum erkannte, den Hausvogt des Accouchierhauses.
Hatte er einen kurzen Augenblick an Loders Rolle in diesem finsteren Theaterstück gezweifelt, so dachte er nun an die vielen Abende, die er gemeinsam mit Hannchen in dessen gastlichem Hause verbracht hatte. Es waren fröhliche Zusammenkünfte gewesen, mit guten Gesprächen und ebensolcher Musik. Loder, der Familie Hufeland seit Jahren verbunden, war ein kluger und unterhaltsamer Mann. Nein, seine Zweifel waren unbegründet. Loder würde gewiss die richtigen Schritte überlegen.
Weber lehnte sich zurück, schloss die Augen und lauschte den Seligpreisungen. Alles würde gut werden. Er sagte es sich immer wieder, leise, als rezitiere er ein Gebet.
Doch erst, als er die Tür zu seinem Haus aufschloss und Hannchen unversehrt am Bett seines Schwagers sitzen sah, wich die Sorge einer erlösenden Gewissheit.
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KÖNIGSBERG
3. NOVEMBER 1780
Ansel Kujat gähnte, als der Kurier die Tür zum Wachraum öffnete und kalte Schneeluft mit sich brachte. Am Memeldelta waren die Zuflüsse gewiss bereits vereist. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis auch Königsberg von der Außenwelt abgeschnitten war. Dieses Jahr war es früh kalt geworden.
»Wie halten Sie es nur aus in dieser Kälte?«, fragte er den Kurier, gähnte erneut und nahm die Post entgegen.
»Mit Verlaub, aber die Arbeit hinterm Schreibtisch hat Sie verweichlicht, lieber Ansel«, antwortete der Kurier grinsend. Er zeigte auf seine Tasche. »Das war die letzte Post. Für heute ist mein Tagwerk beendet.«
Kujat sah auf die Uhr. Beinahe drei. Um fünf Uhr früh hatte sein Dienst begonnen. Auf dem Markt hatte ein heftiger Streit geschlichtet werden müssen. Ein Lumpensammler war des Raubes verdächtigt und festgesetzt worden. Wenig später wurde ein Matrose bei einer Prügelei schwer verletzt. Seitdem war nichts geschehen. Er hatte einige Akten geordnet und einen Brief an seine Cousine in Labiau geschrieben, die er im Frühjahr besuchen wollte. Bevor der Kurier den Wachraum betreten hatte, hatte er darüber nachgedacht, ein kleines Nickerchen zu halten. Um diese Jahreszeit war es ruhig in der Stadt. Bis auf die Nacht, doch das war Sache der Nachtwächter.
»Wie sieht es aus, Hans? Genehmigen wir uns einen Bärenfang?«, fragte er und stand auf, ohne eine Antwort abzuwarten.
»Gewiss.« Der Kurier rieb sich erfreut die Hände und zog einen Stuhl heran. »Wo sind Ihre Kollegen?«
»Sie machen einen Kontrollgang durch die Stadt. Das haben sie zumindest behauptet. Wenn Sie mich fragen, so machen sie Exerzierübungen |168| und träumen davon, wieder als Soldat für das Reich kämpfen zu können, anstatt sich mit Diebespack und Gesindel herumzuschlagen.« Kujat öffnete eine Flasche Bärenfang und goss die honiggelbe Flüssigkeit in zwei Keramikbecher. »Und wie geht es der Familie?«
»Ich war erst vor wenigen Tagen dort. In Pillau sind die Wege bereits verschneit«, wusste Hans zu berichten. »Und vor der Küste tobt der Sturm. Zwei holländische Handelsschiffe warten seit Tagen auf die Überfahrt. Ich möchte nicht in deren Haut stecken.«
Sie prosteten sich zu und erfreuten sich an der Wärme, die der Likör in ihren Bäuchen verbreitete. So ließ es sich vortrefflich über den früh eingebrochenen Winter plaudern. Das sei höchst erstaunlich, bald würde auch das Haff zufrieren, wie im vergangenen Jahr, als man zu Fuß bis zur Nehrung gehen konnte.
Eine Stunde später, als der Kurier die Wachstation schwankend verließ, begann Kujat, die Post zu öffnen und das Siegel zu brechen. Sein Blick war getrübt, und so glaubte er zunächst, dass ihm seine Augen einen Streich spielten, als er in einem der Briefe den Namen »Albert Steinhäuser« las.
Er rieb sich die Augen und meinte, dass es sich um einen Irrtum handeln musste. Noch wenige Wochen zuvor hatte
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