Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
er?«
»Ich danke Ihnen, werter Herr Doktor, bitte erlauben Sie mir, dass ich vorauseile, um Ihnen den Weg zu zeigen.«
Die Sonne hatte sich weiter gesenkt, der Kutscher mahnte zur Abfahrt, doch der alte Hufeland winkte ab.
Es war ein klägliches Trüppchen, das nun über den Hof ging: die Magd, Hufeland und sein Vater, dazu gesellte sich ein zerzauster Junge, wohl der ältere Sohn, der ihnen mit Abstand folgte. Über einen verwilderten Weg gelangten sie zu einer strohbedeckten Hütte am Rande des Waldes.
Sie bestand aus einem einzigen, durch allerlei Möbel verstellten Raum. Neben einem alten Klapptisch verbarg eine Art spanische Wand, die aus einem großen Wachstuch bestand, nur notdürftig das Gerümpel. Neben dem Kamin stand ein aus Holzbrettern gezimmertes und von fleckigen Stoffbahnen verhangenes Bett, dazu eine Stange, auf der Wäsche zum Trocknen baumelte. Eine alte Frau saß vor dem Kamin und rührte, ohne bei ihrem Eintreten |206| aufzusehen, unermüdlich in einem Trog mit Wasser, während sie vor sich hin summte.
Die Magd band die Stoffbahnen vorm Bett zurück. Dort lag ein kleiner Junge, blass und ausgezehrt, mit glatt geschorenem Kopf und eigenartig vorgestülpter Oberlippe. Seine Augen waren gerötet, mit hellen Knötchen, die sich vom Augapfel abhoben. Von seinem Körper ging ein furchtbarer Gestank aus, der Hufeland an verwesendes Fleisch erinnerte.
»Himmel«, murmelte er erschrocken, sah zu seinem Vater und trat einen Schritt zurück.
Der Arzt setzte sich neben den Jungen, schloss die Augen und hielt eine Weile dessen Hand, tastete dann nach dem Puls und verharrte erneut. Dann suchte er in seiner Tasche und verabreichte ein Kräftigungsmittel.
Hufeland sah sich unterdessen im Raum um. Die Armut bedrückte ihn, und so trat er ins Freie und atmete tief durch. Nicht weit entfernt lungerte der zerzauste Junge, doch als Hufeland ihn ansprechen wollte, mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse, lief dieser davon.
Nach einer Weile kam auch sein Vater aus der Hütte, mit ihm die Magd. »Sie müssen alles tun, um ihn zu stärken«, erklärte er ihr, »sonst wird er das Frühjahr nicht erleben.« Hufeland bemerkte, wie der Vater schwankte und sprang hinzu, um ihn zu stützen. Doch er schüttelte ihn ab. »Geben Sie ihm etwas Bittersüß, dazu Eichelkaffee, und fügen Sie Malz hinzu, wenn Sie ihn baden«, fuhr er fort.
Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf. »Wir haben kein Geld, ich kann Sie ja noch nicht einmal entlohnen.«
»Dann besorgen Sie sich Gerstenmehl. Das werden Sie doch bekommen, oder?«
»Ja, ich denke schon.«
»Füllen Sie es in einen Beutel, so dass zwischen Mehl und der Öffnung eine Handbreit frei bleibt. Legen Sie den Beutel in siedendes Wasser, dass er schwimmt, und füllen Sie immer so viel Wasser nach, bis daraus nach einem Tag ein harter Mehlkloß geworden ist. Von diesem schneiden Sie die äußere Rinde |207| ab und zerstoßen den Kern. Hiervon geben Sie morgens und abends einen Löffel voll in einen Schoppen Ziegenmilch, die Sie über Kohlenfeuer zu Brei kochen und dem Jungen zu essen geben.« Die Frau sah ihn mit großen Augen an, und er wiederholte die Rezeptur.
Mittlerweile hatte es zu dämmern begonnen. Es bedurfte viel Überredungskunst, den Kutscher noch zur Heimfahrt zu bewegen. Die Wege seien in der Dunkelheit unpassierbar und sie würden Leib und Leben riskieren, warnte er, doch der alte Hufeland blieb unerbittlich. Schließlich habe man ihn gerufen, also könne er auch verlangen, wieder zurückgebracht zu werden, und so fuhren sie, in Decken gehüllt, zurück nach Weimar.
»Warum bist du dem Kranken ferngeblieben?«, begann der alte Hufeland unvermittelt, an seinen Sohn gewandt, als dieser, vom beständigen Rütteln übel, soeben um eine kurze Rast bitten wollte. »Hattest du Angst?«
»Ich war nur erschrocken.«
»Ich habe deine Angst wohl bemerkt. Die Skrophulose mag in manchen Symptomen der Tuberkulose ähnlich sein, sie ist indes nicht ansteckend.« Hufeland konnte das Stirnrunzeln seines Vaters im Halbdunkel sehen. »Furcht und Schrecken sind des Arztes größter Feind«, fuhr dieser mahnend fort. »Nur ein wahrer Christ ist in seiner Ausübung der Krankenpflege vor Ansteckung gefeit.
Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht sollen ersäufen; und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen.
Du musst auf Gott vertrauen, wenn du den Kranken berührst, dann wird dir
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