Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
nichts geschehen. Wie sonst solltest du gegen all die Seuchen bestehen können, gegen all das Übel, das darauf brennt, seinen Samen in den Nächsten zu pflanzen?«
»Ich werde mich daran halten, Vater.«
»Ich bin nicht mehr so kräftig wie einst, was soll werden, wenn mein eigener Sohn nicht in der Lage ist, mein Erbe anzutreten?«
»Ich werde ein guter Arzt sein, das verspreche ich.«
»Dein Versprechen genügt nicht. Du musst es zeigen. Mit Fleiß |208| und Ausdauer und Stärke. Warum hast du dich in Jena nicht gegen die Bünde gewehrt?«
»Ich habe mich gewehrt, Vater, ich war standhaft und fest.«
»Und doch haben sie vermocht, dich aus der Stadt zu treiben.« Hufeland unterdrückte ein Seufzen. Sein Vater war ein gütiger und allseits geschätzter Arzt, aber unnachgiebig in den Ansprüchen an seinen Sohn. Plötzlich musste er an den kleinen Jungen denken, der so blass und eingefallen und mit blankem Kopf in seinem Bett lag.
»Was war mit dem Kind, warum hat man ihm die Haare geschoren?«
»Ein wandernder Heiler hat sich um den Jungen bemüht und behauptet, er sei von Würmern befallen. Er hat ihm Ziegenkot vermengt mit Weißbrot und verdünntem Quecksilber in die Ohren gestopft, um die angeblichen Ohrwürmer herauszulocken und ihnen dann mit dem Schermesser die Köpfe abzuschneiden.«
»Den Würmern?« Hufeland schüttelte erbost den Kopf. »Warum lassen die Menschen einen derartigen Unsinn zu?«
»Weil sie es nicht besser wissen. In manchen Gegenden hält sich der hartnäckige Glaube, sämtliche Krankheiten rührten von Würmern. Selbst von Zahnwürmern ist die Rede. Sie sollen sich in hohlen Zähnen aufhalten und durch fleißige Vermehrung Schmerzen verursachen. Durch den Rauch von Bilsenkrautkörnern versucht man, die Würmer aus dem Munde herauszutreiben.« Er schnaubte. »Dieser Unsinn treibt solche Blüten, dass man beinahe versucht ist, die Möglichkeit einer Wurmerkrankung zu übersehen, wenn sie dann tatsächlich vorhanden ist. Gerade auf dem Land treibt der Teufel seinen Schabernack in Person von Menschen, die das Volk in seinem Aberglauben bestärken. Diese Leute schicken menstruierende Frauen vor Sonnenaufgang über die Felder, weil sie glauben, ihr Blut mache die Böden fruchtbar und töte Raupen und Würmer, Käfer und Fliegen. Doch dürfen ihre Haare in diesen Tagen nicht mit dem Dünger in Berührung kommen, denn dadurch, das behaupten sie allen Ernstes, würden sie zu Schlangen. Vom Blut junger Mädchen, die zum ersten Mal menstruieren, glauben sie hingegen, dass es, vor |209| allem im abnehmenden oder Neumond, gegen Fieber helfe, wenn damit durchtränkte Wolle eines schwarzen Widders in einem silbernen Armband getragen werde.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Du siehst, es ist von größter Notwendigkeit, fleißig zu studieren. Die Welt braucht Ärzte, die vernünftig ausgebildet sind, um all den Pfuschern und selbsternannten Heilkünstlern Einhalt zu gebieten!«
Hufeland blickte zum Himmel, an dessen Firmament die ersten Sterne erschienen. Wie konnte es sein, dass in einem Jahrhundert, in dem sich die Menschheit anschickte, die Naturgesetze zu entschlüsseln, in dem man die Gesetzmäßigkeiten der Mechanik entdeckte, die der Optik und der Elektrizität, in dem man Muskelkontraktionen und Nervenbahnen nachwies und bemannte Ballons in die Luft steigen ließ und eine vielbändige Enzyklopädie verfasste, die mit den letzten Irrtümern aufräumte, noch so finsterer Aberglauben herrschte?
Es war, als seien sie nicht klüger als zu Zeiten des Theophrastus Paracelsus, der die halbe Welt durchreist hatte, um aus allen Orten Rezepte und Wunder zusammenzutragen. Der behauptete, es gäbe keine Krankheit, die er nicht zu heilen imstande wäre, und seine Heilkunst dabei stets hinter der dunkelsten, mystischsten Sprache verbarg. Und er starb schon im fünfzigsten Jahr, obwohl er doch immer betont hatte, den Stein der Unsterblichkeit zu besitzen.
Hufeland dachte an all die Wunderheiler, Quacksalber und Marktschreier, die teure Wunderkuren feilboten, als auch an die weisen Frauen, deren Wissen sich indes seit Jahrhunderten bewährt hatte und die vielen Menschen besser zu helfen vermochten als mancher Arzt. Ihm fiel auf, dass sein Vater es sich zu leicht machte, alles in einem Atemzug zu verdammen.
Nein, es war nicht die gute Ausbildung der Ärzte allein, die dem unerträglichen Aberglauben Einhalt gebieten konnte. Nur die umfangreiche Aufklärung des Volkes in Stadt und Land würde zu einer
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