Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Haar und spitzem Kinnbart. Seine Augenbrauen waren schwarz und zerzaust wie das Gefieder eines toten Vogels.
    »Giorno, Gillian«, sagte der Mann mit tiefer Stimme, »come stai?«
    »Non c’e male, grazie«, gab Gillian zurück. »Aber ich glaube, wir sollten vor den Kindern Deutsch sprechen.«
    »Natürlich«, sagte der Mann und lächelte herzlich, als er auf die beiden hinabblickte. »Wir wollen doch, daß ihr euch bei uns wohl fühlt, nicht wahr?«
    Den Kindern war deutlich anzusehen, daß von Wohlfühlen noch lange nicht die Rede sein konnte.
    »Gian und Tess, mein Sohn und Lysanders Tochter«, stellte Gillian die beiden vor und deutete dann auf den Mann. »Graf Lascari. Er ist ein guter Freund, ihr braucht keine Angst zu haben.«
    »Angst?« rief Lascari aus und lachte. »Vor mir?« Einen Augenblick lang schien seine Verwunderung keineswegs aufgesetzt, sondern ehrlich und tiefempfunden. Der Gedanke, jemand könne ihn fürchten, schien ihm vollkommen fremd zu sein.
    Lascari trat zur Seite und ließ die drei eintreten. Vor ihnen öffnete sich eine enge, aber ungeheim hohe Eingangshalle, wie das Innere eines Turmes. Im ersten und zweiten Stock führten Balustraden um die Wände. Eine breite, in sich gedrehte Treppe nahm einen Großteil des Raumes ein. Sie entsprang nicht am Fuß der Halle, sondern führte weiter hinab in die Tiefe. Von unten drang leises Rauschen und Plätschern herauf. Es roch nach verfaulten Algen, und aus dem Abgrund wehte bittere Kälte empor. Die Eingangshalle war karg eingerichtet. Es gab keine Teppiche und keine Gemälde, wie man sie in einem Haus dieser Große erwartet hätte. Nur blanken Verputz und rissigen Marmorboden.
    Der kleine Gian wandte sich um und schaute auf zu dem Buchstabenquadrat über der Tür. Gegen das fahle Morgenlicht ließen sich die altertümlichen Buchstaben mühelos entziffern.

    »Das gleiche gibt es auch bei uns im Schloß«, flüsterte er, unschlüssig, ob er sich darüber freuen sollte.
    »In der Bibliothek deines Großvaters«, bestätigte Gillian. »Es ist eines der Symbole der Tempelritter.«
    Gians Verwunderung währte nur einige Herzschläge lang, dann riß er in plötzlichem Begreifen die Augen auf.
    »Ja«, sagte Gillian, als er das vorwurfsvolle Starren seines Sohnes nicht länger ertragen konnte. »Wir sind hier im Hauptquartier der Templer, Gian. Und Graf Lascari ist ihr Großmeister.«
    Sie hatten in einem Zimmer im ersten Stock Platz genommen, das weit wohnlicher wirkte als die kahle Halle im Erdgeschoß. Im offenen Kamin brannte ein Feuer. Die Wände waren hinter Bücherregalen verborgen, deren Holz mit Schnitzereien reich verziert war. Ohne ersichtliche Ordnung standen Ausgaben neueren Datums neben uralten, vergilbten Folianten. Über der Tür hingen zwei gekreuzte Schwerter, die Fenster waren mit rotem Brokat verhängt.
    Bevor sie den Raum betreten hatten, hatte Lascari Gillian beiseite genommen. »Müßten sie das Quadrat nicht von sich aus erkennen, wenn sie wirklich die Erinnerungen ihrer Vorfahren besitzen?«
    Gillian hatte den Kopf geschüttelt. »Ihre Erinnerungen werden nur konkret, wenn sie an Orte kommen, an denen die Präsenz des Vergangenen besonders stark ist – Orte, an denen Nestor und Lysander oder einer von beiden gelebt oder gearbeitet haben.« Mit einem Schulterzucken hatte er hinzugefügt: »Zumindest nehme ich an, daß es so ist. Bisher spricht alles dafür.«
    Der Großmeister hatte die Brauen hochgezogen und geschwiegen.
    Jetzt aber, ein paar Minuten später, beugte er sich in seinem hohen Ohrensessel vor und schaute ernst in Gians Richtung. »Du bist ein schlauer Junge, nicht wahr?« Aus den Tassen, die ein Diener für Gian und Tess herbeigebracht hatte, stieg der Dampf von heißer Schokolade auf; er hing wie süßer Nebel zwischen dem Großmeister und den beiden Kindern. An Tess gewandt fügte Lascari hinzu: »Und du bist natürlich ein kluges Mädchen, Tess. Wenn ihr mögt, will ich euch das Quadrat an der Tür erklären.«
    Tess blickte eher gleichgültig drein, aber Gian nickte zustimmend.
    Er gibt sich solche Mühe, erwachsen zu wirken, dachte Gillian nicht ohne Stolz.
    Der Graf stand auf und nahm von der Kaminablage einen Bleistift und ein Stück Papier. »Seht her …« Er kritzelte etwas auf das Blatt und zeigte es den Kindern. »Wenn man aus dem Quadrat alle Buchstaben streicht, die kein A und kein B sind, und die übrigen A mit ein paar Strichen verbindet, erhält man dieses Muster.«

    »Das Templerkreuz«,

Weitere Kostenlose Bücher