Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
bemerkte Gian, der das Zeichen aus Nestors Zeit im Kloster kannte. »Das haben die Ritter früher auf ihren Hemden getragen.«
»Ganz genau«, bestätigte Lascari erfreut und warf Gillian einen Seitenblick zu. Dann aber stellten sich seine schwarzen Augenbrauen schräg, und er zeichnete abermals etwas auf das Papier, direkt unter das erste Quadrat. »Jetzt machen wir es umgekehrt«, verkündete er. »Alle Buchstaben außer A und B bleiben stehen.«
»Nun«, fragte der Großmeister dann, »welche Buchstaben sind übrig?«
»S – T – N – D – M – T«, las Gian pflichtschuldig ab.
»Weißt du, was diese Buchstaben bedeuten?«
Gian schüttelte den Kopf.
»Sie stehen für Salomonis Templum Novum Dominorum Militiae Templorum – das ist die lateinische Bezeichnung unseres Ordens. Das Quadrat über dem Eingang und in der Bibliothek deines Großvaters ist also nichts weiter als eine Zusammensetzung aus dem Templerkreuz und unserem Namen.«
»Aha«, machte Gian, wirkte aber nicht sonderlich beeindruckt. Gillian verkniff sich ein Grinsen.
Lascari zerknüllte seelenruhig das Papier und warf es ins Kaminfeuer. In einer Stichflamme zerfiel es zu Asche. Das Gesicht des Grafen nahm einen schulmeisterlichen Ausdruck an. »Ich möchte euch noch etwas erklären. Nestor und Lysander, eure Vorfahren, waren keine freundlichen Männer – das wißt ihr ja bereits.«
Beide Kinder nickten stumm.
»Was sie getan haben – sie und einige ihrer Ordensbrüder –, hat nichts mit mir, mit diesem Haus oder den anderen Brüdern zu tun, die hier leben. Wir sind Templer, sicher, aber wir sind Männer Gottes. Und wir verabscheuen, was Nestor und Lysander verbrochen haben.«
»Hier wohnen noch andere?« fragte Gian neugierig. »Auch Kinder?« Das schien ihm weit interessanter als Lascaris gewichtige Ausführungen.
»Leider nicht«, entgegnete der Graf und warf dem schmunzelnden Gillian einen hilflosen Blick zu. »Mit Ausnahme von Bruder Gillian, deinem Vater, hat keiner von uns Ordensbrüdern eigene Kinder.«
» Bruder Gillian?« entfuhr es Gian erstaunt.
Gillian seufzte leise. Er hätte es seinem Sohn gerne selbst erklärt, aber wie er Lascari kannte, würde ihm dieser nun zuvorkommen.
»Dein Vater hat noch nicht mit dir darüber gesprochen?« Lascari blickte dabei nicht den Jungen, sondern Gillian an. Leiser Vorwurf schwang in seiner Stimme.
Der Hermaphrodit erwiderte kühn den Blick des Großmeisters.
»Ich hielt es für wichtig, daß Gian und Tess erst etwas über die heutigen Templer erfahren, ehe sie hören, daß ich einer von ihnen bin.«
Auch das vermochte den Zweifel in Lascaris Blicken nicht zu vertreiben. Er schätzte Gillian, aber er wußte auch, daß sein Beitritt zum Orden eher aus einer Not heraus denn aus Überzeugung stattgefunden hatte. Selbst nach sieben Jahren der Prüfung und Ausbildung war Lascaris Argwohn nicht gänzlich geschwunden. Und Gillian mußte sich insgeheim eingestehen, daß der Großmeister recht hatte: Zwar waren die Lehren, Ziele und Wege des Ordens die seinen geworden, doch der christliche Glaube, der allem zugrunde lag, erfüllte ihn auch heute noch mit Widerwillen. Er hatte mit den anderen gebetet und die Sakramente empfangen, und er schätzte beides als Symbol und als Möglichkeit der Meditation. Aber ein wahrer Katholik war nicht aus ihm geworden.
Lascari wußte all das sehr genau. Aber er war sich im klaren gewesen, auf was er sich einließ, als er Gillian in den Orden aufnahm – abgesehen davon, daß es nur Männern erlaubt war, heute wie vor siebenhundert Jahren, Gillian aber beides war, Mann und Frau in einem Körper. Noch ein Punkt, der gegen die Statuten des Ordens verstieß.
Gillian erinnerte sich noch gut an das erste Gespräch mit dem Großmeister. Nachdem er von der Verletzung, die der Fettfischer ihm im Keller der Hofburg beigebracht hatte, genesen war, war er ohne Verzug nach Venedig aufgebrochen. Er hatte bereits seit langem gewußt, daß es hier einen Zweig des Templerordens gab, der den Zielen Lysanders entgegenarbeitete – Lysander selbst hatte ihn während seiner Jahre als bezahlter Mörder auf einen der Ordensbrüder angesetzt. Bis heute war ihm nicht klar, ob Lascari wußte, daß Gillian einen seiner Männer getötet hatte. Das war auch der Grund gewesen, weshalb Gillian sich nicht bereits früher an die venezianischen Templer gewandt hatte. Erst nach der Niederlage im Keller der Hofburg hatte er keinen anderen Ausweg gesehen.
Der Großmeister hatte ihn damals
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