Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
seiner Studien im Laboratorium vernachlässigt –, dann aber hatte ihn eine seltsame Ahnung überkommen.
Er hatte erneut das Werk über alchimistische Pflanzenkunde aus der Bibliothek geholt, und noch einmal hatte er sich in die Sage vom Gilgamesch-Kraut vertieft. Es gab in diesem Kapitel des Buches keine Zeichnungen, nicht einmal grobe Skizzen, und doch war da eine verschlüsselte Beschreibung, von Nestor am Seitenrand markiert. Dort war die Rede von sogenannten Schwertern des Lebens, und als Christopher versuchte, eines der Pflänzchen zu pflücken, schnitt er sich an den scharfen Kanten der Blätter – eine Verletzung, die er für einen Hinweis darauf hielt, daß es sich bei den langen, klingenähnlichen Pflanzen tatsächlich um das gesuchte Gilgamesch-Kraut handelte.
Wiewohl, auch er war nicht verblendet genug, die Kräuter am eigenen Leib zu testen. »Schwerter des Lebens« mochte eine passende Beschreibung sein, aber ein endgültiger Beweis war es nicht. Wer wußte schon, was der Verzehr der Kräuter bewirken mochte? Außerdem besagte die Legende, das Kraut komme erst nach sieben Jahren zu voller Reife und Kraft. Was, wenn er mit seiner Vermutung falsch lag, wenn der Leichendünger des Toten nicht Leben, sondern Gift aus der Erde wuchern ließ? Und überhaupt, warum sollte das Gilgamesch-Kraut ausgerechnet auf Nestor Grab wachsen, nachdem so viele Generationen von Alchimisten und Wunderheilern vergeblich danach geforscht hatten?
Nein, sicher konnte er nicht sein. Was blieb, war ein Hauch von Gewißheit, eine instinktive Ahnung, daß er die Lösung des Rätsels entdeckt hatte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, das Kraut einem anderen Familienmitglied ins Essen zu mischen, kam von diesem Einfall aber schnell wieder ab. Falls die Blätter tatsächlich Unsterblichkeit schenkten, so gönnte er sie niemandem außer sich selbst, mit Ausnahme Sylvettes vielleicht. Um sie aber empfand er die gleiche Angst wie um sein eigenes Wohlergehen. Der Gedanke, ihr Schaden zuzufügen, war ihm unerträglich.
Christopher verbrachte den Rest von Sylvettes Geburtstag im Dachgarten, untersuchte zum unzähligsten Male eines der Kräuter unter dem Mikroskop, verglich die Struktur der Blätter mit allen Pflanzendiagrammen, die er finden konnte, und kam dennoch zu keinem Ergebnis. Nur eines war sicher: Eine bekannte Kräuterart war dies nicht.
Gegen halb sechs ging er zum Abendessen. Er hatte es immer öfter ausfallen lassen, doch heute wollte er zur Feier von Sylvettes Geburtstag dabeisein. Er wußte, sie würde es ihm übelnehmen, wenn er sich nicht zeigte.
Charlotte saß schon an der Tafel und würdigte ihn keines Blickes. Wie Daniel zu seinem Essen kam, konnte Christopher nur ahnen; jemand aus der Dienerschaft mußte den geheimen Weg zur Leuchtturminsel kennen und ihm die Mahlzeiten hinüberbringen. An der abendlichen Tafel zumindest hatte Daniel seit seinem Auszug aus dem Schloß nicht mehr gesessen. Christopher war selbst überrascht, wie eisern Charlotte sich an seine Anweisungen hielt. Ihr mußte noch viel mehr daran liegen, Sylvette die Wahrheit über ihre uneheliche Herkunft zu verschweigen, als er angenommen hatte. Was ihm freilich nur recht sein konnte.
Die Mahlzeiten waren seit seinem Gespräch mit ihr eine trostlose Angelegenheit geworden, es wurde kaum geredet, und wenn doch, dann bestritt Sylvette mit ihrer kindlichen Plauderei die gesamte Unterhaltung. An diesem Abend aber hatten Köchin und Dienerschaft sich besondere Mühe gegeben, die drei übriggebliebenen Familienmitglieder aufzuheitern. Der Tisch war festlich geschmückt, sogar Papiergirlanden hingen im Kronleuchter, und vor Sylvettes Platz war eine hohe Torte mit elf Kerzen aufgebaut worden.
Christopher und Charlotte saßen schweigend da, während zwei Dienstmädchen das Essen auftrugen. Deckel wurden von dampfenden Schüsseln gehoben, die Kerzen auf der Geburtstagstorte entzündet.
Sylvette war unpünktlich. Die Vorbereitungen für die Mahlzeit waren bereits seit einigen Minuten beendet, als draußen auf dem Flur endlich das vergnügte Poltern ihrer Schritte ertönte. Sie hatte es eilig, wie alle Kinder auf dem Weg zum Geburtstagstisch. Um so erstaunlicher war, daß sie zu spät kam.
Noch bevor sie die Tür erreichte, erklang auf dem Gang der erschrockene Ausruf eines der Dienstmädchen. »Aber Fräulein Sylvette …«
Charlotte wurde aufmerksam, und auch Christopher blickte erwartungsvoll zur Tür. Einen Herzschlag später erschien das Mädchen im
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