Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Kraft ein Stück aus dem Wasser. Das Risiko, daß es dennoch abgetrieben wurde, war hoch, aber er fand weit und breit nichts, an dem er das Tau hätte festknoten können.
Völlig durchnäßt von Salzwasser und Schweiß kletterte er die Felsen hinauf, bis er von oben in die Senke im Inneren der Insel blicken konnte. Im Mondenschein war die klobige Familiengruft nur schwer auszumachen, ein runder Bau, der ringsum von einem Säulengang umgeben war. Aus den Hängen, die zum Felswall des Eilands hinaufführten, ragten Grabsteine und halbzerfallene Kreuze. Manche Gräber bestanden nur aus aufgeschichteten Steinen, die längst in sich zusammengefallen waren. Christophers Herz schien sich beim Anblick des alten Piratenfriedhofs zusammenzuziehen.
Das Gruftgebäude hatte keine Fenster, doch durch den Spalt unter der Tür fiel sanfter Kerzenschimmer. Christopher eilte zwischen Gräbern und Felsbrocken den Hang hinab, bis er unter dem Säulengang des Rundbaus zum Stehen kam. Vorsichtig näherte er sich der Tür und legte ein Ohr an das wettergegerbte Holz. Er frohlockte angesichts seines Glücks: Die Stimmen der beiden waren ganz deutlich zu hören. Denn in der Tat, es waren Stimmen, kein Seufzen und Rascheln wie sonst, nicht die geheimen Laute der Leidenschaft. In dieser Nacht schienen Charlotte und Friedrich ein ernstes Gespräch zu führen.
»Du kannst dich nicht von einem Kind herumkommandieren lassen«, sagte Friedrich mit strenger Stimme. Es klang, als stritten sie miteinander, wahrscheinlich schon seit geraumer Zeit.
»Christopher ist kein Kind mehr«, widersprach Charlotte kleinlaut. »Gerade das macht ihn so gefährlich.«
»Nicht gefährlich. Boshaft, vielleicht, und undankbar, sonst gar nichts.«
»Du hast ihn nicht erlebt.«
»Was kann er schon tun? Nestor weiß alles über uns. Und Sylvette, nun, glaubst du nicht, sie würde es verkraften?«
»Nein! Sie darf es nicht erfahren, verstehst du? Ich will nicht auch noch sie verlieren.«
Schritte ertönten, vermutlich ging Friedrich in der Gruft auf und ab. »Du willst es ihr ein Leben lang verheimlichen?«
»Welchen Sinn hätte es, wenn sie es erfährt? Nestor mag ein Ungeheuer sein, aber sie hält ihn immerhin für ihren Vater. Und noch scheint sie sich keine ernsten Gedanken über sein Verhalten zu machen.«
»Und wenn sie es aber eines Tages tut?« fragte Friedrich gereizt. »Herrgott, Charlotte, er wird sie genauso fortschicken wie Aura. Er duldet nicht, daß man sich in seine Angelegenheiten mischt.«
Charlotte schnaubte aufgebracht. »Wie gut, daß er wenigstens mich nicht länger zu seinen Angelegenheiten zählt.«
Abermals Schritte, dann ein leises Rascheln von Kleidung, als sie einander umarmten.
Schließlich sagte Friedrich: »Christopher muß von hier verschwinden. Und wenn es nur um Daniels willen ist.«
»Der arme Daniel! Ich mache mir Sorgen um ihn. Er ist so schwach und sensibel. Ich weiß nicht einmal, was er den ganzen Tag in diesem Leuchtturm treibt.«
»Hast du Angst, er könnte noch einmal versuchen, sich das Leben zu nehmen?«
»Seit Aura fort ist – jeden Tag, jede Stunde. Ich kann kaum an etwas anderes denken.« Sie weinte leise.
»Um so wichtiger ist es, Christopher loszuwerden. Was treibt er überhaupt den ganzen Tag mit Nestor auf dem Dachboden?«
»Was weiß ich! Wahrscheinlich hilft er ihm bei … bei was auch immer Nestor dort oben tun mag. Ich war seit Jahren nicht mehr auf dem Speicher. Nestor könnte genausogut tot sein.«
»Vielleicht ist es an der Zeit, ihm noch einmal einen Besuch abzustatten.«
Charlotte klang erschrocken. »Du willst zu ihm gehen? Zu Nestor?«
»Warum nicht? Mehr als mich beschimpfen kann er nicht tun. Vielleicht hilft es, wenn ich ihm von den kleinen Intrigen seines Schützlings erzähle.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob Nestor nicht selbst dahintersteckt.«
»Und Sylvette?«
»Sie bedeutet ihm nichts, das weißt du. Er würde in Kauf nehmen, daß sie an der Wahrheit zerbricht.«
Eine Weile lang herrschte Stille. Christopher wagte kaum zu atmen, aus Angst, die beiden könnten ihn hinter der Tür bemerken.
Dann sagte Friedrich: »Ich gehe zu ihm, gleich morgen früh. Und ich werde mir Christopher vorknöpfen.«
»Es wird kaum einen Sinn haben, ihn zu verprügeln.«
»Verprügeln? Nein, ich fürchte, aus dem Alter ist er heraus.«
Er lachte bitter. »Ich werde ihm drohen, ihn im Meer zu ersäufen.«
»Du redest Unsinn.«
»An wem hängst du mehr? An ihm oder an Sylvette?« Als Charlotte
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