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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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wie ein Polizist einer neugierigen Reisenden von einem gefährlichen Mädchenräuber und seinem willenlosen Opfer erzählte, waren auch ihre letzten Zweifel zerstreut. Und Gillian traf eine sonderbare Entscheidung.
    »Los, komm mit«, sagte er und deutete auf die Tür einer öffentlichen Toilette in der Bahnhofshalle.
    Aura gefiel es nicht, daß er sie an der Hand packte und mit sich zog – nicht nur, weil er sie wie ein Kind behandelte, sondern weil es allzu großes Aufsehen erregen mochte. »Weißt du, warum die kleine Figur auf der Tür einen Rock trägt?« fragte sie bissig. »Frauen tragen Röcke.«
    »Abwarten«, gab er knapp zurück, dann erreichte er schon die Tür, öffnete sie einen Spaltbreit und blickte vorsichtig hinein. Aura tat ihr Bestes, ihn dabei gegen Blicke aus der Halle zu schützen.
    »Bist du verrückt geworden?« zischte sie verwirrt, doch da verschwand er bereits im Inneren des Toilettenraumes. Mit einem wütenden Schnauben folgte sie ihm.
    Hinter der Tür roch es entsetzlich. Schmutzige Wasserpfützen standen auf dem nackten Steinboden, der Spiegel war mit einem Netz von Rissen überzogen. Die Türen der beiden Kabinen standen offen. Aura und Gillian waren die einzigen Menschen im Raum.
    »Geh da rein!« wies Gillian sie an und deutete auf die rechte Kabine.
    »Warum?«
    »Nun mach schon.«
    »Hättest du die Güte, mir zu –«
    »Aura, bitte!«
    Mürrisch zog sie sich in die Kabine zurück und wartete ab, was er als nächstes unternehmen würde. Zu ihrem Erschrecken drängte er hinter ihr her.
    »Was soll –«
    »Still!«
    Sie verstummte und machte widerwillig Platz. Gillian lehnte die Tür an. Durch einen schmalen Spalt schaute er hinaus in den Vorraum.
    Großartig, dachte sie finster, soweit also ist es gekommen. Du versteckst dich mit dem Mörder deines Vaters in der Kabine einer Damentoilette. Du mußt den Verstand verloren haben.
    Zugleich wurde ihr bewußt, daß sie ihn noch immer nicht gefragt hatte, ob er seinen Auftrag ausgeführt hatte. Hatte er ihren Vater tatsächlich getötet?
    Natürlich hat er! gab sie sich selbst die Antwort. Seltsamerweise verspürte sie keine Trauer bei diesem Gedanken, auch keine Abscheu. Die Schrecken des Briefes, an dessen Wahrheitsgehalt sie nicht länger zweifelte, saßen immer noch zu tief.
    Die Vordertür quietschte, als jemand den Vorraum betrat. Schritte klapperten über den nassen Steinboden. Aura stellte sich auf die Zehenspitzen, um über Gillians Schulter hinweg einen Blick nach draußen zu werfen. Ganz kurz sah sie einen breiten Umriß, der an der Kabine vorüberging.
    Gillian rührte sich nicht. Aura tippte mit dem Zeigefinger auf seinen Rücken.
    »Was jetzt?« flüsterte sie ungeduldig.
    »Noch nicht«, gab er zurück, ohne sich umzudrehen.
    Sie hörten, wie sich die Frau in die benachbarte Kabine zurückzog. Kurz darauf verließ sie die Toilette und Aura war wieder allein mit Gillian.
    Gerade wollte sie ihn an der Schulter packen und zwingen, sich endlich umzudrehen und ihr sein Vorgehen zu erklären, als erneut jemand in den Vorraum trat. Aura zog mit einem stillen Seufzer ihre Hand zurück und ließ Gillian gewähren.
    Was danach geschah, ging so blitzschnell, daß es vorüber war, ehe Aura es völlig erfaßte. Innerhalb zweier Atemzüge sprang Gillian aus der Kabine, stürzte sich auf die Frau, betäubte sie lautlos mit einem gezielten Hieb in den Nacken und zog sie in die benachbarte Kabine. Durch die hölzerne Trennwand hörte Aura ihn dort mit seinem wehrlosen Opfer herumhantieren. Was, zum Teufel, tat er?
    Sie erfuhr es zwei Minuten später, als er von außen die Tür der Kabine aufdrückte, und Aura ihn im gelben Zwielicht der Toilettenbeleuchtung vor sich sah.
    Einen Moment lang verschlug es ihr die Sprache. Sie mußte ziemlich albern aussehen, so wie sie dastand, Mund und Augen aufgerissen – und dennoch nicht halb so albern wie Gillian. Aber lächerlich war es nur auf den ersten Blick und nur so lange, wie sie brauchte, um die Erinnerung an den früheren Gillian abzuschütteln. Dann aber war alles, was sie sah, eine Fremde. Eine Frau mit Gillians Zügen, und dennoch durch und durch weiblich.
    Er sah nicht aus wie ein Mann, der sich Frauenkleider übergezogen hatte. Unter dem federgeschmückten Hut schien sein Gesicht eine sonderbare Weiblichkeit auszustrahlen, eine Weiblichkeit, die die ganze Zeit über dagewesen sein mußte, und doch jetzt erst wirklich zur Geltung kam. Er trug ein blaues, knöchellanges Kleid, einen

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