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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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schwarzen, schlichten Überwurf und eine Pelzstola, die echt oder imitiert sein mochte – genauso wie er selbst: Niemand würde den Unterschied bemerken.
    »Wie machst du das?« fragte sie atemlos und starrte auf sein Dekollete. Es war nicht üppig, aber doch sichtlich gefüllt. Und es sah nicht aus, als hätte er es mit irgend etwas ausgestopft!
    »Veranlagung«, bemerkte er trocken und griff nach Auras Hand. Sogar seine Stimme klang eine Tonlage höher. »Wir müssen hier verschwinden.«
    »Was hast du … Ich meine, was hast du mit der Frau gemacht?«
    »Sie schläft. Mindestens eine Stunde lang. Vorausgesetzt, niemand findet sie. Aber die Tür ist von innen verriegelt.«
    Sie fragte gar nicht erst, wie er das zuwege gebracht hatte. Ein Mann, der es vermochte, sich ohne Schminke in eine Frau zu verwandeln, der wurde wohl, so nahm sie an, auch mit einem simplen Toilettenschloß fertig.
    Während sie wieder hinaus in die Bahnhofshalle traten, dachte Aura, daß der Begriff Verwandlung nicht wirklich zutraf. Was Gillian getan hatte, war keine Zauberei. Vielmehr schien es allein an der Kleidung zu liegen. In Hose und Hemd sah er aus wie ein Mann, im Kleid wie eine Frau, ganz einfach. Aura hätte vielleicht darüber geschmunzelt, wäre die Lage nicht so ernst gewesen.
    Mit der Kleidung hatte Gillian der bewußtlosen Frau auch die Geldbörse entwendet, und der Inhalt erlaubte ihm, am Schalter zwei reguläre Fahrkarten nach Wien zu lösen. Auf dem Bahnsteig kaufte er von einem Bauchladenhändler ein halbes Dutzend belegte Brote, die sie mit Heißhunger verspeisten. Erst nachdem sie ihren Hunger gestillt hatte, fragte Aura einen alten Mann nach dem Datum. So erfuhr sie, daß man sie drei Tage lang im künstlichen Schlaf gehalten hatte. Erschrocken sank sie auf eine Bank nieder, schlug die Hände vors Gesicht und mühte sich verzweifelt, ein wenig Ordnung in ihr Denken zu bringen.
    So vieles war geschehen, und nichts davon hätte sie früher für möglich gehalten. Ein Mörder hatte sie durchs Gebirge gejagt; Madame de Dion hatte sich als Mädchenhändlerin entpuppt; ein Mann, der sie noch vor wenigen Monaten ermorden wollte, hatte ihr das Leben gerettet – und sich anschließend in eine Frau verwandelt. Das alles war ein wenig viel auf einmal. Als Krönung des Ganzen verlangte Gillian, daß sie mit ihm nach Wien reiste, um irgendeinen alten Feind ihres Vaters … ja, was eigentlich? Was hatte Gillian gemeint, als er davon sprach, Lysander das Handwerk zu legen? Und welchen Anteil sollte sie selbst daran haben?
    Sie fragte ihn im Flüsterton danach, damit keiner der anderen Wartenden etwas mitbekam, doch Gillian vertröstete sie auf die Fahrt. Falls es ihnen gelingen sollte, ein Abteil für sich allein zu bekommen, wollte er ihr Antworten auf alle Fragen geben. »Versprochen«, fügte er ernsthaft hinzu, aber natürlich glaubte sie ihm kein Wort und ergab sich mit einem Seufzen in ihr Schicksal.
    Zwei Stunden später gelang es Gillian, ihren einzigen Mitreisenden aus dem Abteil zu vertreiben, in dem er ihm unschickliche Blicke und kesse Berührungen vorwarf. Danach waren sie endlich unter sich.
    Der Zug schnaufte in einer Kohlenrauchwolke durch das nördliche Voralpenland, eine grüne Berg- und Hügellandschaft, die malerisch im Bann des anbrechenden Frühlings vorüberzog. Der Himmel war azurblau, nur hier und da mit wattigem Weiß getupft. Riesige Vogelschwärme schwebten majestätisch von Süden her über schroffe Felsen und sanfte Hänge.
    Aura erübrigte kaum einen Blick für die Schönheiten der Umgebung. Die Wirrnis in ihrem Kopf kam allmählich zur Ruhe, doch ihr Herz raste jetzt vor Aufregung, als reagiere es erst mit Verspätung auf die vergangenen Ereignisse.
    Ehe sie aber etwas sagen konnte, kam Gillian ihr zuvor. Er trug noch immer das blaue Kleid, sogar den geschmacklosen Federhut, der sein kurzes Haar kaschierte.
    »Ich bin dir wohl ein paar Erklärungen schuldig«, begann er, und sein Tonfall verriet, daß er sich keineswegs wohl dabei fühlte. »Sag mir am besten, womit ich anfangen soll.«
    »Wie wäre es mit Lysander«, schlug sie vor und dachte dabei: Seltsam, wie sanft und freundlich dieser Name klingt – und doch verbirgt sich dahinter eine solche Gefahr.
    »Er ist ein Alchimist, genau wie dein Vater einer war. Niemand weiß Genaues über ihn. Er hat in den vergangenen Jahrzehnten in allerlei Verstecken gehaust, die meisten davon mit sehr viel Geld erkauft. Es heißt, er verfüge über

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