Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
unerschöpflichen Reichtum. Nicht, daß er damit praßt oder prahlt. Vielmehr benutzt er sein Geld, um Einfluß zu nehmen – auf den Kaiser ebenso wie auf die geringsten Tagediebe in den Gassen der Stadt. Er hat Feinde im Übermaß, und doch ist keiner darunter, der wirklich gegen ihn vorgehen würde. Es gibt niemanden, der von Lysanders Existenz weiß und ihn nicht gleichzeitig fürchtet. Mit einer Ausnahme, vielleicht.«
»Mein Vater«, ergänzte Aura tonlos.
Gillian nickte und holte tief Luft, als könne er damit die Schatten der Vergangenheit vertreiben. »Es gab eine Zeit, in der ich oft mit Lysander zu tun hatte. Ich nahm viele seiner Aufträge an, vor zehn und noch mehr Jahren.«
Aura schätzte Gillian auf dreißig, nicht älter. Wenn er schon vor über einem Jahrzehnt für Lysander gearbeitet hatte, mußte er sehr jung mit dem Töten begonnen haben. Der Gedanke erfüllte sie mit Mitgefühl, nicht mit Angst.
»Viel mehr weiß ich nicht über ihn«, sagte Gillian. »Er ist ein lebendes Geheimnis, und für viele ist er eine Legende. Ich habe manches über die Experimente gehört, die er angeblich durchgeführt hat – und es sind solche, über die du ganz bestimmt nichts hören möchtest –, aber ich weiß nicht, wieviel Wahres wirklich daran ist. Ich war nie dabei, wenn er diese Dinge getan hat. Alles, was ich sonst noch über ihn weiß, ist, daß er Geschmack hat. Er liebt die Malerei und ist selbst nicht ganz untalentiert.« Er machte eine kurze Pause, um dann eilig hinzuzufügen: »O ja, und wenn er will, dann gehorcht ihm die halbe Unterwelt Wiens, und wahrscheinlich auch ein Großteil der Oberwelt.«
»Oberwelt?« fragte sie irritiert.
»Derzeit logiert er in den Gewölben der Hofburg. Niemand kann sich dort unten häuslich einrichten, ohne daß die Wachmannschaften davon wissen. Ich habe gesehen, daß seine Diener eine Kutsche des kaiserlichen Fuhrparks benutzten. Etliche Herren in den höchsten Ämtern kassieren für solche Gefälligkeiten zweifellos gehörige Summen. Genug, um ihn in jeder erdenklichen Lage zu unterstützen.« Ein bitteres Lächeln spielte um Gillians Mundwinkel. »Lysander ist kein angenehmer Feind.«
Aura schüttelte fassungslos den Kopf. »Ich kann nicht glauben, daß du es ernsthaft mit ihm aufnehmen willst.«
»Oh«, entgegnete Gillian lächelnd, »ich habe doch eine zauberhafte Verbündete.«
»Schlag dir das aus dem Kopf. Ich meine es ernst, Gillian. Am nächsten Bahnhof steige ich aus.«
»Das bezweifle ich.«
»Was willst du tun? Mich festbinden?«
»Wenn es sein muß.«
Ihr Lachen klang übernervös. »Warum gerade ich?«
»Du wurdest in diesen Konflikt hineingeboren, Aura. Lysander hat deinen Vater gefürchtet, sonst hätte er mich nicht beauftragt, ihn zu töten. Und ich habe die Hoffnung, daß er dich ebenso fürchtet.«
»Nur wegen dem, was Vater mit mir vorhatte?«
»Lysander fürchtet, daß es bereits geschehen ist – daß du das Kind deines Vaters schon in dir trägst.«
Wieder lachte sie, und wieder klang es eine Spur zu schrill. »Er glaubt ernsthaft, ich sei schwanger?«
»Du hast es doch selbst gelesen. Er ist sich dessen nicht sicher.«
»Aber ich bin sicher. Außerdem stand in dem Brief, daß die Tochter des Alchimisten volljährig sein muß, um den Stein der Weisen zu gebären. Selbst wenn ich schwanger wäre, würde es demnach nicht das geringste bedeuten.«
Gillian runzelte die Stirn und nickte. »Lysander muß aus irgendeinem Grund Zweifel an dieser Regel haben. Vielleicht weil die Schriften, aus denen er seine Informationen bezieht, mehrere Jahrhunderte alt sind. Heutzutage hat man die Volljährigkeit auf das einundzwanzigste Lebensjahr festgelegt – doch wie war das damals, als die meisten Menschen kaum älter als vierzig wurden? Kinder heirateten mit elf oder zwölf, und die Mädchen wurden bald darauf zum ersten Mal Mutter. Mag sein, daß das, was man damals unter Volljährigkeit verstand, bereits viel früher eintraf.«
»Aber Vater hat nie –«
»Gut möglich, daß ihm andere Quellen zur Verfügung standen als Lysander. Oder aber er wollte kein Risiko eingehen.«
Aura schüttelte sich, da ihr ein Schauder über den Rücken kroch.
»Vielleicht hat Vater es nie wirklich vorgehabt. Vielleicht …« Sie brach plötzlich in Tränen aus, bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte. »Woher sollen wir denn wissen, was tatsächlich in ihm vorging?«
Gillian ergriff tröstend ihre Hand. »Männer wie er und Lysander haben ihr Leben
Weitere Kostenlose Bücher