Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
einen stabilen Pfosten. Das andere Ende hielt er ihr auffordernd entgegen.
»Legen Sie das bitte an.«
»Ich denk nicht dran.«
»Bitte, Aura… Ich will Sie nicht zwingen.«
»Wie wollen Sie das anstellen?«, fragte sie spöttisch. »Mit dem Messer? Sie bringen mich nicht um, Fuente. Das wäre sicher nicht im Sinne meines Vaters.«
Sein Tonfall blieb ruhig, aber bestimmt. »Bitte, tun Sie, was ich Ihnen sage.«
»Vergessen Sie’s.« Doch dann fiel ihr ein, dass er sie allein lassen würde, wenn sie auf seine Forderung einging, und der Chevalier damit die Gelegenheit hätte, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Sie stritt noch eine Weile länger mit ihm, doch dann gab sie sich einsichtig und legte die Schelle um ihr linkes Handgelenk.
»Wenn Sie das beruhigt«, sagte sie mürrisch und setzte sich auf einen verwitterten Balken, der sich irgendwann einmal aus dem Dachstuhl des Schuppens gelöst hatte. Es roch intensiv nach verfaultem Stroh und Rattenkot. Die Scheune sah nicht aus, als würde sie noch benutzt. Zudem lag sie weit genug außerhalb des Ortes, dass Aura sich die Lunge aus dem Hals brüllen könnte, ohne dass irgendwer sie hörte. Aber sie hatte nicht vor, es darauf ankommen zu lassen.
Sorgen machte sie sich allein um die Pistole in ihrer Satteltasche. Wenn Fuente neue Pferde besorgte, würde er die Taschen von einem Tier aufs andere laden. Sie konnte nur hoffen, dass er dabei nicht auf die Idee kam, abermals den Inhalt zu kontrollieren.
Er verließ den Schuppen, und sie blieb allein zurück. Noch eine Weile lang hörte sie den Hufschlag der Pferde auf dem steinigen Weg, dann wurden die Geräusche leiser und verstummten.
Fuente hatte ihr eine Kerze zurückgelassen, für die er eine Mulde in den festgestampften Lehmboden geschabt hatte. Im flackernden Schein der Flamme warfen die Balken und Verstrebungen an den Holzwänden bizarre Schatten, ein dunkles Gitterwerk, in dessen Zentrum Aura saß. Einen Moment lang bekam sie Panik, als ihr bewusst wurde, dass sie erneut gefangen und die Pistole nicht mehr greifbar war. Sie zerrte an der Kette, bis ihre Haut unter der Schelle schmerzte, dann gab sie auf. Allmählich wurde sie etwas ruhiger, zog die Knie an und wartete.
Es dauerte nicht lange, bis sie ein Geräusch vernahm, drüben am Eingang. Die morsche Tür wurde einen Spalt weit aufgeschoben, gerade weit genug, dass ein einzelner Mann hereinschlüpfen konnte.
Es war seltsam – bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn nur mit der roten Maske gesehen, und so hatte sie ihn in Erinnerung behalten. Eine blanke Fläche, auf die sich jedes erdenkliche Gesicht projizieren ließ.
Der Mann, der sich jetzt in den Schuppen schob, halb verborgen vom Spinnennetz der Schatten und nur undeutlich im Schein der Kerze zu erkennen, war größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Seiner Kleidung war anzusehen, dass er schon so lange im Gebirge unterwegs war wie sie selbst. Er trug einen langen Mantel, ähnlich wie Fuente, aber aus festem, dunkelbraunem Stoff. Seine Hose war aus Leder, die Stiefel endeten kurz unter den Knien. Sein schwarzes Hemd hing über dem Gürtel, und als er auf sie zukam, fiel ihr auf, dass sich darunter eine Waffe abzeichnete.
Der Chevalier hatte dunkles Haar, nicht schwarz, eher anthrazitfarben, wie sie es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Silbrig beinahe, doch das mochte eine Täuschung des Kerzenlichts sein. Das Erstaunlichste aber war, dass sein Gesicht sie nicht überraschte. Nichts in seinen Zügen widersprach dem, was sie sich vorgestellt hatte. Sein Unterkiefer war markant, die Nase schmal. Sie erkannte ihn sofort an seinem schönen Mund und dem Grübchen im Kinn.
»Mademoiselle Sylvette«, begrüßte er sie und verbeugte sich schelmisch, was seltsamerweise trotz seiner Größe nicht lächerlich und trotz der Situation galant wirkte.
»Sie kennen meinen richtigen Namen, nehme ich an.«
»Aber als Sylvette haben Sie sich mir vorgestellt, ich wollte nicht unhöflich sein.«
»Sylvette ist meine jüngere Schwester. Aber ich vermute, dass Sie auch das wissen.«
Er nickte.
Gut, zumindest versuchte er nicht, ihr etwas vorzuspielen. Wozu auch?
Er kam näher, trat jetzt ganz in den Schein der Kerze. Weil sie immer noch auf dem Balken saß und keine Anstalten machte, sich zu erheben, ging er vor ihr in die Hocke, bis sich ihre Augen auf einer Höhe befanden.
»Wie soll ich Sie heute nennen?«, fragte sie. »Dorian war doch si-cher genauso falsch wie Sylvette.«
»Konstantin«, sagte
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