Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Angst war die Furcht vor etwas, worauf sie nicht den mindesten Einfluss hatte.
Zehntausend Franzosen um sie herum, getrieben vom Hass auf al-les Deutsche. Zehntausend Franzosen auf dem Weg zu den Bahnhöfen, um ihre Söhne, Brüder, Ehemänner zu den Zügen zu begleiten, den Zügen an die Front. Um Deutsche zu töten. Deutsche wie Aura.
Die Wahrheit aber war, dass es keine ausgestreckten Finger gab, die auf sie zeigten. Und die Rufe, die sich zu einem frenetischen Crescendo vermischten, galten nicht ihr, sondern Frankreich, es lebe hoch!, galten Freunden, Bekannten, Verwandten.
Der Boulevard hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt, der sie fortzutragen drohte – wenn sie Pech hatte bis zum Eingang eines Bahnhofs, bis auf einen Bahnsteig. Zwischen jubelnde Mütter, die nicht ahnten, was ihren Söhnen bevorstand, und stolze Geliebte, die den Schatten einer kurzen Trennung spürten, nicht aber den des To-des.
Es kostete Aura eine Menge Kraft, die andere Seite des Boulevards zu erreichen, nur um dort festzustellen, dass die Masse sie ein ziemliches Stück weit nach Westen abgetrieben hatte. Die Gasse, in die sie wollte, lag fast zweihundert Meter hinter ihr. Zweihundert Meter gegen den Strom. Ebenso gut hätte sie sich gleich auf die Straße legen können, damit man sie niedertrampelte.
Nicht weit entfernt sah sie den Eingang eines Cafes. Sie ließ sich bis dorthin mitreißen. Es war, als würden ihre Füße nicht einmal den Boden berühren.
Das Lokal hatte einen Hintereingang, und niemand kümmerte sich darum, als sie ihn benutzte. Der Besitzer und die Kellner standen am Fenster und starrten mit leuchtenden Augen hinaus auf die Straße. Neid, dachte Aura perplex. Sie wollen mit in den Krieg ziehen. Und wer weiß, vielleicht würden sie noch früh genug Gelegenheit dazu bekommen. Dann würde sich entscheiden, ob ihnen Gewehr und Bajonett ebenso leicht in der Hand lagen wie Geschirr und Tablett.
Über einen Innenhof und durch einen Torbogen. Eine Reihe schmaler Gässchen entlang, in denen der Lärm von den Boulevards widerhallte, verzerrt wie Hilfeschreie in einem Höhlenlabyrinth. Auch hier wimmelte es von Menschen, und mehr als einmal kam es ihr vor, als werfe ihr jemand einen misstrauischen Blick zu, schaue ihr über die Schulter hinterher oder tuschelte verstohlen mit seinen Begleitern.
Irgendwann lag vor ihr eine verlassene Schneise zwischen hohen Häusern. Am anderen Ende befand sich eine dunkle Wand, vor der die Gasse nach links abbog. Im Näherkommen entdeckte Aura, dass die Wand gar keine Wand war, sondern der pechschwarze Schatten eines Torbogens. Einen Moment lang war ihr, als stünde eine Gestalt in der Finsternis, eine Frau, so schwarz wie ihre Umgebung – Mein Spiegelbild! Es ist ein Spiegel! –, doch dann war da nichts mehr, nur ein lichtloser Hof voller Abfälle.
Erschöpft erreichte Aura den Boulevard du Montparnasse und bog von dort aus in die Rue de Rennes, die Verbindungsstraße zum Boulevard St. Germain. Vor einem schmalen Schaufenster kam sie schließlich zur Ruhe, schnell atmend, als hätte sie sich mit der Menge ein Rennen auf Leben und Tod geliefert.
Es war das Schaufenster einer Buchhandlung, einer von Dutzenden überall in Paris. Philippe hatte ihr davon erzählt, und das wiederum bedeutete, dass der Laden etwas Besonderes sein musste.
Er gehörte einem Ehepaar, den Dujols. In ihrem Haus trafen sich seit geraumer Zeit die Alchimisten der Stadt. Denn nur hier, unter den freundlichen, stets ein wenig neugierigen Augen Pierre Dujols’ konnten sie nach jenen Büchern fragen, deren Titel ihnen anderswo amüsierte Blicke eingebracht hätten.
Die Dujols rühmten sich nicht mit der Palette ihres Angebots. Niemand wünschte, dass es Laien hierher zog, Wichtigtuer aus Bürgertum und Adel, für die Alchimie nicht mehr war als eine Freizeitbeschäftigung. Zu Pierre Dujols und seiner Frau kam man, wenn es einem ernst war mit der Arbeit am Großen Werk, mit dem Streben nach etwas, das sich schwerlich benennen ließ und doch so viel mehr versprach, als das einfache Leben zu bieten hatte.
Als Aura vor einer Woche zum ersten Mal hier gewesen war, hatte sie nicht erwartet, auf ein Buch zu stoßen, das nicht auch in der Bibliothek ihres Vaters stand. Sechshundert Jahre Beschäftigung mit der Alchimie ließen sich schwerlich übertreffen, und eine Sammlung, zusammengetragen über ein halbes Jahrtausend, durfte wohl mit Fug und Recht den Anspruch absoluter Vollständigkeit erheben.
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