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Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche

Titel: Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Narbe verlief quer über seine linke Wange.
    »Wer bist du?«, flüsterte sie und wusste zugleich, dass sie keine Antwort bekommen würde. Wer hatte ihn geschickt, sie und Gian zu entführen?
    Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Der Druck seiner Finger auf ihre Hand blieb konstant, beinahe so fest, dass es weh tat. Aber sie brachte es nicht über sich, ihn abzuschütteln.
    Der sterbende Junge keuchte. Tess blickte ihn erschrocken an und hätte gerne seine Wange gestreichelt, aber sie wagte nicht, die Hand unter seinem Kopf wegzuziehen. Und an ihre Linke klammerte er sich noch immer mit aller Kraft.
    »Ganz ruhig«, sagte sie leise. »Bleib ganz ruhig liegen.«
    Hilflos. So unsagbar hilflos. Aber nicht einmal ein Arzt hätte ihn ret-ten können, nicht mit drei rostigen Zinken in der Brust, die seine Lunge durchstoßen hatten und vermutlich sogar in seinem Rückenmark steckten.
    Wieder stöhnte er etwas, nur Laute, nicht einmal Silben, unterstrichen vom. schwindenden Rhythmus seines Herzschlags. Tess hatte noch nie das Herz eines anderen pochen hören, ohne das Ohr an seine Brust zu legen. Das des Jungen aber schlug so laut und heftig, dass die Geräusche durch seine Rippen, seine Haut, seine Kleidung drangen.
    Stirb doch endlich, dachte sie erneut. Mach es dir nicht noch schwerer. Und mir.
    Aber er lebte und sah sie an, während seine Finger ihre Hand umklammerten, bis ihre Haut weiß wurde und zu kribbeln begann.
    Und dann begriff sie, was er tat.
    Er hielt sie fest, damit sie nicht weiter floh. Hielt sie fest, damit sie ihm nicht entkam. Hielt sie fest, damit die anderen sie fanden. Selbst im Sterben erfüllte er noch seine Pflicht.
    Sie lächelte, als sie ihn durchschaute, und vielleicht erkannte er, was sie dachte, denn seine Mundwinkel zuckten, und einen Augenblick lang glaubte sie, er würde grinsen, wie es sich für einen Jungen seines Alters gehörte. Dann aber quoll ein weiterer Blutschwall über seine Lippen, und er starb.
    Sie blieb neben der Leiche sitzen und bettete seinen Kopf auf den schwarzen Bandagen, mit denen er sein Gesicht maskiert hatte. Dann zog sie sachte ihre Hand unter der seinen hervor.
    Sie würde diesen Augenblick nicht vergessen. Ganz gleich, was geschehen mochte: Sie würde ihn niemals vergessen.
    Sie saß noch da wie gelähmt, als die Tür des Schuppens aufgestoßen wurde und Fackellicht die Silhouetten ihrer Entführer umspielte. Sie waren so schlank wie der tote Junge neben ihr, keiner war größer. Tess konnte ihre Gesichter nicht sehen, aber sie ahnte, dass sich unter den Bandagen keine Männer verbargen. Nur Jungen. Fast noch Kinder. Es machte keinen Unterschied. Stumm erhob sie sich und ließ sich gefangen nehmen.

KAPITEL 10
    Rue Campagne-Premiere, Nummer 15. Die zweite Treppe hinauf. Kaskaden stand auf dem Schild an der Türglocke.
    Was für ein schöner Name, dachte Aura. Sie streckte die Hand nach dem Glockenzug aus, zögerte aber, bevor sie ihn berührte. Sie ließ den Arm wieder sinken, trat einen Schritt zurück und blickte über das Treppengeländer nach unten.
    Dort war niemand.
    Einen Moment lang hatte sie geglaubt, Schritte zu hören. Aber falls ihr tatsächlich jemand gefolgt war, war er gewiss nicht so dumm, ihr in ein menschenleeres Treppenhaus nachzugehen, wo seine Schritte von den Wänden widerhallten. Es sei denn, er wollte es nicht mit der Verfolgung bewenden lassen.
    Aber nein. Nur ihre eigene Unsicherheit starrte ihr aus der Tiefe entgegen, als hätte das Bodenmosaik im Erdgeschoss die Form eines riesigen Auges angenommen.
    Mit einem Seufzer trat sie zurück an die Tür. Las noch einmal den Namen. Dann zog sie an der Klingel. Ein Glöckchen bimmelte an der Innenseite.
    Sie lauschte und hörte geraume Zeit überhaupt nichts. Dann wurde irgendwo im Inneren der Wohnung eine Tür geöffnet, und Schritte näherten sich raschelnd auf weichem Teppich.
    »Ja, bitte?« Die Stimme einer jungen Frau. Sogar durch die Tür war der deutsche Akzent nicht zu überhören.
    Aura hatte auf dem Weg hierher überlegt, was sie sagen wollte, und sich schließlich für die Wahrheit entschieden. Zumindest für einen Teil davon.
    »Ein Bekannter hat mir Ihre Adresse gegeben«, sagte sie unverbindlich.
    »Wer ist Ihr Bekannter?« Die Tür blieb noch immer geschlossen, aber Aura registrierte eine Bewegung hinter dem Guckloch. Es war ihr unangenehm, auf diese Weise angestarrt zu werden.
    »Der Chevalier Weldon.«
    Stille hinter der Tür, dann: »Sie sind Frau Institoris?«
    Aura

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