Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Plötzlich las sie Mitleid in seinem Blick. »Ewiges Leben, Aura. Glaubst du denn, das wird dich glücklich machen?«
»Ich werde jetzt verschwinden, Raffael. Behalt die Kisten.«
Er hielt sie an der Schulter zurück, und sie hatte nicht die Kraft, seine Hand abzustreifen. Sie drehte sich nicht zu ihm um.
»Allein die Vorstellung würde mich in den Wahnsinn treiben.« Seine Gehässigkeit war aus Schmerz geboren, sie konnte sie ihm nicht einmal übel nehmen. »Auch du kannst den Tod anderer nicht aufhalten. Es wird dir genauso ergehen wie mir.
Du wirst hilflos dabeistehen und zusehen müssen. Dieses Gefühl… du kannst nichts tun, nichts ausrichten. Und dann das Wissen, dass du weiterleben wirst! Mylène stirbt, und ich werde leben. Wo ist da der Sinn? Und du wirst das nicht nur einmal erleben, sondern dutzende Male. Hunderte Male.« Es klang, als wollte er sie mit einem Fluch belegen, aber dazu war es längst zu spät. Alles, was er sagte, war richtig. Und mit dem Fluch hatte sie selbst sich belegt.
Als sie schwieg und sich nicht rührte, sagte er: »Macht die Unsterblichkeit dich vielleicht zu etwas Besserem? Hältst du dich für eine Göttin? Bist du das – eine Göttin?«
Sie löste sich von ihm. Erst auf Höhe des Gittertors gab sie sich einen Ruck und schaute zurück. »Mach’s gut, Raffael.« Sie war drauf und dran etwas hinzuzufügen über das Verständnis, das sie mit einemmal für ihn empfand, die Achtung vor der ungeheuren Last, mit der er lebte. Aber sie fürchtete, er könnte es als Hohn auffassen, und so verzichtete sie darauf und trat auf die Straße.
»Eine Göttin!«, brüllte Raffael hinter ihr in die Nacht hinaus.
»Eine gottverdammte Göttin in Schwarz!«
Der verdatterte Kutscher hielt ihr die Zügel hin. »Ihr Pferd, Mademoiselle.«
»Nehmen Sie es mit zurück zum Palais.« Wäre sie nicht so müde gewesen, hätte sie der ausgebrannte Klang ihrer Stimme erschreckt. »Und laden Sie vorher die Kisten ab. Das alles bleibt hier.«
Dann ging sie davon in die Nacht und wünschte, sie könnte Mylènes zuckende Augen vergessen.
Zwei Stunden später saß sie an einem Bahnsteig und blickte gedankenverloren auf die Menschenmassen, die sich um sie herum in Richtung der Züge wälzten. Die Zeiger einer mannshohen Uhr wiesen beide auf die Eins.
Sie hatte nur einen kleinen Koffer mit dem Nötigsten gepackt und die Anweisung gegeben, den Rest in Philippes Palais schaffen zu lassen. Sie trug jetzt nicht mehr eines ihrer Kleider, sondern dunkle Hosen, Stiefel und eine schwarze Bluse aus festem Leinen.
Den Mann am Schalter hatte sie bestechen müssen, um noch eine Fahrkarte zu bekommen. Ein Zug Richtung Süden, über die Loire hinweg nach Toulouse. Dort hoffte sie einen Anschlusszug zu bekommen, der sie jenseits der Garonne hinauf in die Berge brachte.
Alle Züge, die in dieser Nacht den Bahnhof verließen, waren hoffnungslos überfüllt, aber es gab genug Schaffner und Bahnangestellte, die eine Reihe von Abteilen für teures Geld an die Meistbietenden vergaben. Aura fühlte sich erbärmlich, als sie einen dieser Plätze ergatterte, während Mütter mit Kindern, die Paris aus Angst vor dem Krieg verlassen wollten, zurückbleiben mussten. Aber es ging nicht mehr. Sie konnte nicht länger hier bleiben.
Auf dem Bahnsteig herrschte ein verbissenes Schieben und Drängen. In der kurzen Zeit, bis der Zug abfuhr, wurde Aura Zeugin von drei Schlägereien. Einmal hetzten zwei ältere Damen ihre Kammerdiener aufeinander, die sich mit zögernden, gestelzten Hieben traktierten, um so den Streit ihrer Herrinnen über einen Sitzplatz am Fenster zu entscheiden.
Gewaltbereitschaft hing über den Bahnsteigen wie ein übler Geruch.
Sie saß auf der äußersten Ecke einer Bank und hatte den Koffer zwischen ihren Knien abgestellt. Neben ihr drängte sich eine übergewichtige Frau mit ihren drei Töchtern auf die Bank. Aura konnte nicht verstehen, über was die vier sprachen. Ihre Stimmen gingen unter in dem ohrenbetäubenden Lärm, der den gesamten Bahnhof erfüllte.
Es waren hauptsächlich Frauen, die mit den Zügen nach Süden aufbrechen wollten. Aura vermutete, dass die meisten von ihnen in den vergangenen Tagen ihre Männer und Väter verabschiedet hat-ten, Soldaten auf dem Weg zur Front. Bei allem Jubelpatriotismus, der seit der Mobilmachung in den Straßen von Paris herrschte, schien es doch vor allem unter den Gutsituierten viele zu geben, die sich vorsichtshalber zu Verwandten in die Provinz zurückzogen.
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