Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
vier übereinander liegenden Reihen grauer Metalltüren. Es roch nach verschüttetem Alkohol und kaltem Zigarrenrauch.
Ein Mann im langen Mantel hatte den Kopf in ein offenes Schließfach gebeugt. Es sah aus, als verneige er sich vor etwas im Inneren.
Aura ging langsam an ihm vorüber. Jetzt sah sie, dass auch einer seiner Arme in dem Fach steckte. Er zog eine Tasche hervor, wandte sich um und eilte davon, ohne sie zu beachten.
Ihr Herz pochte wie wild, aber sie ging weiter, an den Wänden aus kaltem Eisen vorüber, bis sie das Schließfach mit der Nummer Sechsundfünfzig erreichte. Es lag im hinteren Viertel des Raums, über zehn Meter vom Ausgang entfernt.
Sie schrak zusammen, als ein Schatten am Eingang der Nische vorüberwischte. Nur ein Reisender.
Zu ihrem eigenen Erstaunen zitterten ihre Finger nicht, als sie den Schlüssel ins Schloss schob. Mit einemmal wurde sie ganz ruhig. Sogar ihr Herzschlag schien sich zu verlangsamen, der Knoten in ihrem Hals löste sich auf.
Wieder eilte jemand am Eingang vorbei. Sie sah es nur aus dem Augenwinkel.
Der Schlüssel passte. Der zerfetzte Strohstern baumelte herunter wie die Karikatur einer Vogelscheuche, mit abgespreizten Armen und Beinen.
Sie hörte den Mechanismus knirschen und wollte die Eisentür aufziehen.
Hinter ihr hustete jemand. Sie blieb stocksteif stehen und wartete, bis der Mann sein eigenes Fach geöffnet hatte und davongeeilt war. Dann war sie wieder allein.
Ein letztes Durchatmen, und die Tür schwang auf.
Ein zerknittertes Stück Stoff verdeckte die Sicht ins Innere. Als sie zögernd die Hand danach ausstreckte, bemerkte sie, dass die Oberfläche eingeölt war, um sie wasserdicht zu machen.
Sie zog den Stoff beiseite.
Ein warmer, fleischiger Geruch quoll ihr entgegen.
Aus der Dunkelheit starrte ihr Raffael entgegen. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund stand offen. Sein Hals endete eine Fingerbreite unterhalb des Kehlkopfs in zerfransten Hautlappen.
Mylènes Schädel lag dahinter. Ihr Gesicht war Aura zugewandt, aber ihre Lider waren geschlossen.
Mylènes Augen hatten aufgehört zu zucken. Sie träumte jetzt nicht mehr.
Der Bahnsteig hatte sich merklich geleert. Rund um die Waggontüren standen Pulks von Abgewiesenen, aber das Gedränge hatte sich in den Zug verlagert, wo die Menschen jetzt um Abteile und Sitzplätze kämpften.
Auras eigenes Abteil befand sich im letzten Waggon, dem hinteren Wagen der Ersten Klasse. Die Vorhänge zum Gang waren zugezogen. Es war hier weniger voll, weil der Schaffner bereits am Eingang all jene aussiebte, die keine markierten Fahrkarten besaßen. Die Markierung bedeutete, dass der Besitzer am Schalter eine Bestechungssumme gezahlt hatte.
Aura ging wie eine Schlafwandlerin den Gang entlang. Sie spürte kaum, dass ihre Füße den Boden berührten. Die Nummern auf den Abteiltüren nahm sie wie durch einen Schleier wahr.
Ihr fiel nur ein einziger Grund ein, warum Grimauds Mörder Raffael und seine Frau getötet hatte: Raffael hatte lautstark verkündet, was er über sie wusste. Sie sei eine Unsterbliche, hatte er gesagt. Außer Aura und dem Kutscher war noch jemand Zeuge dieser Szene geworden. Sie erinnerte sich an das Rascheln der Büsche vor dem Haus. Eine Katze, hatte sie gedacht, und vielleicht war das die Wahrheit. Vielleicht aber auch nicht.
Aber wenn er Raffael ermordet hatte, weil er ihr Geheimnis kannte, dann bedeutete das … Gott im Himmel, es bedeutete, dass der Mörder sie beschützte.
Ihr wurde übel bei dem Gedanken. Der Mörder hatte nachts neben ihrem Bett gestanden, hatte ihr ein blutiges Siegel, zusammengenäht aus Grimauds Leichenhänden, auf den Körper gepresst. Und jetzt hatte er Raffael und die arme Mylène abgeschlachtet und ihr die beiden Schädel wie Trophäen präsentiert.
Schau her, was ich getan habe! Ich hab ‘s für dich getan!
Einen Moment lang stand sie kurz davor, sich zu übergeben, aber das Gefühl verging rasch. Ein älterer Mann kam ihr entgegen und starrte sie mit unverhohlenem Missfallen an, während er sich mit seinem Gepäck an ihr vorbeizwängte. Sie kämpfte gegen den Drang, ihm hinterher zu blicken, und setzte ihren Weg fort.
Warum glaubt er, mich beschützen zu müssen? Welchen Sinn hat das alles?
Ihr war schwindelig. Abteil Nummer zwölf.
Alles drehte sich. Sie musste sich hinsetzen, sonst würde sie stürzen.
Mit einem Ruck riss sie die Tür auf und schob den Vorhang beiseite.
Muss… sitzen.
»Willkommen«, sagte eine
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