Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
glaubte Aura, sie wäre tot. Ihre Haut war wächsern und spannte sich weiß über den Wangenknochen und dem dürren Genecht aus Sehnen und Muskeln am Hals. Langes Haar umrahmte ihr Gesicht. Ihre Lippen waren fast unsichtbar, farblos und schmal wie mit einem Bleistift gezogen. Ob ihre Brust sich hob und senkte, war unter dem dicken Federbett nicht auszumachen. Unter ihren Pergamentlidern, mit winzigen Adern durchzogen und beinahe durchsichtig, zuckten die Augäpfel wild von einer Seite zur anderen. Die Frau träumte.
»Mylène«, flüsterte Raffael, als spräche er mit sich selbst.
»Meine Frau.«
Er trat rasch an Aura vorbei, setzte sich auf die Bettkante und löste unendlich sanft die verkrallten Finger der Kranken vom Laken. Vorsichtig legte er die Hand auf die Decke über ihrer Brust.
Aura war an der Tür stehen geblieben. Etwas hielt sie davon ab, näher an das Bett zu treten. Nicht die Angst vor Ansteckung – sie glaubte nicht, dass sie sich hier mit etwas infizieren würde, das ihrer Unsterblichkeit gefahrlich werden konnte –, vielmehr spürte sie eine natürliche Scheu vor der Konfrontation mit dem Tod. Und dass Mylène sterben würde, daran bestand kein Zweifel. Vermutlich war sie nicht einmal Mitte Zwanzig, und doch sah sie aus wie eine alte Frau. Die Krankheit hatte erst all ihre Reserven verschlungen, und nun fraß sie sie selbst.
»Was hat sie?«
»Die Ärzte haben eine ganze Reihe von Namen dafür. Nichts, wo-von wir Normalsterblichen je gehört hätten.«
Sie wollte nicht widersprechen, auch wenn sie vermutete, dass sie während ihrer Studien sehr wohl darüber gelesen hatte. »Hat sie Schmerzen?«
Als er aufblickte, hatte er Tränen in den Augen. »Sieht sie aus, als hätte sie keine?«
»Tut mir Leid, ich…«
Er schüttelte den Kopf und ergriff Mylènes Hand. »Die Medizin, die ich für sie kaufe, hilft ein wenig. Sie ist nur selten bei Bewusstsein, die meiste Zeit schläft sie.«
Aura hatte Mühe, den Blick von den zuckenden Augen der Kranken zu nehmen. Wo ist sie gerade? Was sieht sie?
»Ich habe alles für die Ärzte verbraucht, für Medikamente, dafür, dass die Schmerzen weniger werden, und sie…« Er verstummte.
Aura lehnte sich erschöpft gegen den Türrahmen. Sie war nicht bereit für so etwas. Ihre Mutter war seit langem blind und geistig verwirrt, und auch wenn diese Last vor allem auf Sylvettes Schultern ruhte, so glaubte Aura doch zu wissen, was Raffael empfand. Sie hatte zu Charlotte nie ein gutes Verhältnis gehabt, und obgleich sie ihre Mutter bemitleidete, spürte sie seit langem keine Liebe mehr zu ihr. Raffael aber liebte Mylène. Der Preis, den er dafür zahlte, war ungeheuerlich. Nein, Aura konnte nicht einmal im Ansatz erahnen, was in ihm vorging. Nicht jetzt, nicht hier, und erst recht nicht, wenn er zu Männern wie Philippe ins Bett stieg, um sich ihr Geld und ihr Vertrauen zu verdienen. Einen Moment lang sah sie ihren alten Freund in einem völlig neuen Licht, und das Gefühl, das sie dabei überkam, war purer Abscheu.
»Ich…«, begann sie, schluckte und setzte neu an: »Leb wohl.«
Sie wartete nicht auf seine Reaktion und stürmte die Treppe hinunter. Erst als sie unten ankam, bemerkte sie, dass er ihr gefolgt war.
»Warte!«
Widerwillig blieb sie stehen.
»Warte«, sagte Raffael noch einmal, jetzt leiser.
Sie drehte sich zu ihm um. Neben ihr raschelte es in den Büschen, aber sie nahm es kaum wahr. Eine Katze, dachte sie benommen.
»Ich weiß alles«, sagte er. »Was meinst du?«
»Ich weiß, wer du bist.«
Sie zuckte die Achseln, aber es fühlte sich an, als hätte jemand ein Zentnergewicht auf ihre Schultern geladen. Raffael sprach sie schon immer mit ihrem wahren Namen an, deshalb waren seine Worte keine Überraschung. Aber es steckte mehr dahinter.
»Du musst nicht sterben«, sagte er laut. Erst nach einem Augenblick wurde ihr klar, dass er sie deshalb von Anfang an gehasst hatte. Mylène musste sterben, während sie, Aura, ewig leben würde. Mylène war bettelarm und todkrank, Aura dagegen unfassbar reich und unsterblich. Die Ungerechtigkeit, die in dieser Erkenntnis lag, hätte sie für einen Moment beinahe selbst überzeugt.
Dann aber schüttelte sie den Kopf. »Ich bin nicht verantwortlich für das Schicksal, Raffael. Und ich kann Mylène nicht helfen. Nicht einmal all das Geld, das du heranschaffst, kann ihr helfen.«
Sein Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse aus hilfloser Wut, doch ebenso schnell entspannte es sich wieder.
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