Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Mann und so breit wie sein Oberschenkel. Züngelnd und mit kaltem Blick näherte sich die Schlange dem Bündel.
Der Mann bemerkte nichts davon. Arglos wie ein Kind schwamm er im See, so arglos wie seit Jahren nicht mehr, denn er glaubte sich am Ziel seiner Suche.
Die Schlange riss das Maul auf und verschlang das Bündel. Für einen Augenblick wanderte es als fester Knoten durch ihren Leib, dann glätteten sich die Schuppen. Die Schlange machte kehrt, lag für ein paar Herzschläge wie eine schwarze Krone um einen Stein, der Ähnlichkeit hatte mit dem Kopf einer Frau, und verschwand dann im Felsspalt, wurde eins damit, war fort.
Der Mann aber kam zurück ans Ufer und bemerkte seinen Verlust. Weinend ließ er sich auf den Felsen nieder, und seine Tränen misch-ten sich mit den Wassertropfen auf seiner Haut.
Der Himmel bedeckte sich mit schwarzen Wolken, Regen prasselte auf schwarzen Stein und schwemmte die Bilder fort ins Nichts.
Die Dunkelheit war in Aufruhr, raste vorüber und wurde zur Nacht vor dem Fenster des Abteils.
Aura öffnete träge die Augen. Salome und Lucrecia blickten durch sie hindurch, ehe sich auch ihre Blicke festigten und sie von dort zurückkehrten, wo Auras Vision sie hingeführt hatte.
»Gilgamesch«, sagte Aura.
»Was?«, fragte Salome benommen.
»Gilgamesch. Sein Kampf mit dem Himmelsstier der Göttin Innana und der Raub des Krauts durch die Schlange.«
Lucrecia runzelte die Stirn. »Welches Kraut?«
»Als-Greis-wird-der-Mensch-wieder-jung – das Kraut der Unsterblichkeit.«
Die Schwestern sahen einander an. Lucrecia hatte gehofft, einer Genesis von Göttern beizuwohnen, und nun wirkte sie enttäuscht und fasziniert zugleich. »Erklären Sie’s uns.«
Aura vergrub das Gesicht in den Händen und rieb sich durch die Augen. Ihre Augäpfel fühlten sich an, als wollten sie aus den Höhlen springen. Sie hatte Kopfschmerzen und einen Kloß im Hals, der sich auch durch mehrmaliges Räuspern nicht lösen ließ. In ihr brannte das Bedürfnis, den Zwillingen alles zu erzählen – dass das Gilgamesch-Kraut im Dachgarten ihres eigenen Schlosses wuchs, auf dem Grab ihres Vaters. Dass es den Menschen die Unsterblichkeit schenken konnte, so wie ihr und Gillian. Dass alles, was um sie herum geschah, in irgendeinem Zusammenhang mit dem Kraut und der Aussicht auf ewiges Leben stand.
»Gilgamesch ist der Held seines eigenen Epos, nicht wahr?«
Salome sah Aura neugierig an. »Er war König, glaube ich, irgendwo in Nordafrika.«
»Vorderasien«, sagte Aura, »in Mesopotamien. Er war der Herrscher der Stadt Uruk, etwa 2800 vor Christus. Die Sumerer haben ihn als Gott verehrt, vermutlich schon zu seinen Lebzeiten, vor allem aber später, als man sich seiner nur noch anhand der alten Mythen erinnerte. Die Neuzeit erfuhr erst vor knapp fünfzig Jahren von ihm, als man in London eine Unzahl von Tonscherben entdeckte, auf denen seine Geschichte in Keilschrift niedergeschrieben steht.«
»Warum in London?«, fragte Salome.
»Dorthin hatten Archäologen die Bibliothek des Assurbanipal gebracht, eines assyrischen Herrschers. Eine Bibliothek aus Ton, wohlgemerkt. Aus Tausenden winziger Scherben rekonstruierte man zwölf Tontafeln und entzifferte die Legende von Gilgamesch.«
»Gut und schön«, sagte Lucrecia. »Aber warum taucht er in Ihren Visionen auf?«
Aura suchte nach einer raschen Antwort, aber keine, die ihr einfiel, klang besonders überzeugend. »Ich hab mich eine Weile damit beschäftigt, vor ein paar Jahren.«
»Sind Sie Wissenschaftlerin?«
»Nur eine Amateurin.«
Salome zog eine Schnute. »Warum erzählen Sie uns nicht einfach alles? Schließlich haben wir dasselbe gesehen wie Sie.«
Lucrecia nickte beipflichtend. »Wir haben ein Recht darauf.«
»Uruk wird erst seit kurzem ausgegraben«, sagte Aura. »Man hat die Ruinen am Unterlauf des Euphrat entdeckt, die größte prähistorische Stadt der Welt. Ein Bekannter von mir, Professor Goldstein, leitet die Ausgrabungen, deshalb weiß ich so viel darüber.« Das war nur die halbe Wahrheit, aber es reichte hoffentlich aus, um ihr Interesse zu rechtfertigen. »Eines Tages machte sich Gilgamesch auf, die Bestie Chumbaba zu töten. Er fand sie in einem Zedernwald in den Bergen des Libanon und erschlug sie. Bald wusste das ganze Land von seiner Heldentat, und auch die Göttin Innana wurde auf ihn aufmerksam. Sie verliebte sich auf der Stelle in den Sterblichen und bot ihm an, seine Frau zu werden. Gilgamesch aber verstieß und verhöhnte sie.
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