Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Daraufhin wurde Innana so wütend, dass sie sich an ihren Vater wandte, den Himmelsgott Anu. Sie bat um Hilfe, um sich an Gilgamesch zu rächen, und Anu gab ihr nach einigem Zögern den Himmelsstier mit auf den Weg. Der Stier tötete einen Großteil der jungen Männer, die in Uruk lebten, ehe Gilgamesch sich ihm stellte und ihm den Garaus machte.«
»Der erste Teil der Vision«, sagte Salome leise.
»Innana kochte vor Wut, aber ihr blieb keine andere Wahl, als klein beizugeben. Sie sandte den Zorn der Götter herab auf die Menschen, und einer von denen, die starben, war Gilgameschs bester Freund und Kampfgefährte Enkidu. Sein Tod erinnerte Gilgamesch daran, dass auch er selbst eines Tages sterben würde. Damit aber wollte er sich nicht abfinden, und so machte er sich auf die Suche nach der Unsterblichkeit. Damals erzählte man sich die Legende vom Urahnen Utnapischtim, dem einzigen Menschen, der die Sintflut überlebt und dafür von den Göttern das Geschenk des ewigen Lebens erhalten hatte. Gilgamesch brach auf, um ihn zu suchen. Viele Jahre lang zog er durch die Welt und erlebte zahlreiche Abenteuer, ehe er Utnapischtim und dessen Frau schließlich am Ufer des Urozeans, des Apsu, entdeckte. Der Unsterbliche war ein weiser Mann, und er stellte Gilgamesch vor eine schwere Aufgabe: Falls es ihm gelingen würde, sechs Tage und sieben Nächte ohne Schlaf auszukommen, würde er ihn am Mysterium der Unsterblichkeit teilhaben lassen. Gilgamesch aber war geschwächt von seiner langen Reise und den vielen Gefahren, die er überwunden hatte, und so schlief er ein, kaum dass er sich an Utnapischtims Feuer niedergelassen hatte.«
»Männer«, sagte Salome mit schmalem Lächeln. »Alle gleich.«
»Gilgamesch hatte Glück. Denn Utnapischtims Frau war gnädiger als ihr Mann, und sie hatte Mitleid mit dem Helden, der den weiten und gefährlichen Weg zu ihnen zurückgelegt hatte. Sie überredete Utnapischtim, Gilgamesch zumindest einen Teil des Rätsels zu offenbaren. So verriet der Weise dem König, dass das Kraut der Unsterblichkeit am Grunde des Apsu, des Ozeans, wuchs. Und er sagte zu ihm: ›Es ist ein Gewächs, dem Stechdorn ähnlich. Wie die Rose sticht dich sein Dorn in die Hand. Dieses Gewächs hat die Kraft, dich unsterblich zu machen.‹«
Lucrecia streckte sich und ließ ganz und gar undamenhaft die Fingerknöchel knacken. »Ich wette, er ist sofort ins Meer getaucht und hat dort auf Anhieb gefunden, was er gesucht hat.«
Aura lächelte. »Die Logik der Mythen. Oberflächlich haben sie nicht viel mit dem wirklichen Leben gemein. Dabei verraten sie in Wahrheit so viel über uns. Gilgamesch jedenfalls hat das Kraut tatsächlich auf dem Meeresgrund gefunden und ist damit an die Oberfläche zurückgekehrt. Der Mann, der er zu Beginn seines Weges gewesen war, hätte nur an sich gedacht – doch Gilgamesch hatte eine Lehre aus seinen Reisen gezogen, er war ein anderer geworden, und so beschloss er, das Kraut zurück nach Uruk zu bringen, um es dort unter den Männern und Frauen seines Volkes zu verteilen. Alle sollten dar-an teilhaben und sehen, dass er ein gerechter und weiser Herrscher geworden war.«
»Und die Schlange?«, fragte Salome.
»Gilgamesch verließ Utnapischtim und dessen Frau und machte sich auf den Rückweg nach Uruk. Viele Monate wanderte er durch die Welt, durch Länder, die noch immer die Spuren der Schöpfung trugen, ödes, unfertiges Land, das darauf wartete, vom Mensch in Besitz genommen und fruchtbar gemacht zu werden. Schließlich musste er eine Pause einlegen, und so ließ er sich an einem See nieder. Er wusch sich den Schmutz vom Körper, damit er nicht wie ein Bettler in seine Heimat zurückkehren musste. Doch als er wieder ans Ufer kletterte, war das Kraut der Unsterblichkeit verschwunden. Eine Schlange hatte den Duft gewittert und das Kraut gestohlen. Sie fraß es auf, warf ihre alte Haut ab und wurde wiedergeboren. Seitdem können Schlangen sich verjüngen, die Menschen aber behalten ihr Leben lang denselben Körper und müssen sterben. Gilgamesch kehrte als geschlagener Mann nach Uruk zurück und herrschte fortan klug, aber von Traurigkeit erfüllt über die Geschicke seines Volkes.«
Aura atmete tief durch und schaute von einer der Schwestern zur anderen. Sie hatte sich von der Geschichte davontragen lassen. Jetzt fragte sie sich, ob sie die Zwillinge gelangweilt hatte.
Salome aber hatte die ganze Zeit über mit großem Interesse zugehört. »Gut und schön«, sagte sie schließlich.
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