Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
sterben zu müssen, sind Sie ziemlich skeptisch, was das Übernatürliche angeht.«
»Wenn man lange genug damit lebt, wird auch Unsterblichkeit irgendwann zur Normalität. Geht Ihnen das mit Ihrer Begabung nicht genauso?« Die Frage war rhetorisch gemeint, aber die beiden stimmten nicht zu, sondern sahen sie nur aufmerksam an. Aura fuhr fort: »Trotzdem bedeutet das nicht, dass Sie oder ich unbesehen jedes übersinnliche Phänomen akzeptieren müssten. Glauben Sie vielleicht an Geister? An Vampire? Ich jedenfalls nicht. Nur weil ich Tomaten esse, müssen mir noch lange nicht alle anderen Gemüse schmecken.«
»Es geht auch nicht zwangsläufig um Akzeptanz«, sagte Salome. »Nur um Aufgeschlossenheit.«
»Ich bin gerne bereit, dazu zu lernen.«
»Dann denken Sie nach. Der Chevalier hatte die gleiche Vision wie Sie, darauf geben wir Ihnen unser Wort. Er muss die Vermutung gehabt haben, dass es Ihnen genauso wie ihm ergehen würde, deshalb hat er Sie zu uns geschickt. Daraus ergeben sich die beiden ersten Fragen: Warum decken sich die Bilder, die er gesehen hat, mit Ihren eigenen? Und weshalb hat er gewusst, dass es so sein würde?«
Lucrecia nahm den Faden auf: »Ihre zweite Vision hat dieselbe Frau gezeigt, aber in einem neuen Zusammenhang. Sie ist also das verbindende Glied zwischen beiden Szenen. Das führt meines Erachtens zur wichtigsten Frage von allen: Warum sehen Sie diese Frau?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Aura.
»Der Chevalier hat sie auch gesehen«, fuhr Lucrecia fort. »Die Verbindung zwischen ihm und Ihnen ist diese Frau. Egal, was sonst noch zwischen Ihnen beiden war – ihr Bild hat Sie zusammengeführt. Er hat den Kontakt zu Ihnen gesucht, weil er angenommen hat, dass wir Ihnen helfen würden, dieselben Bilder zu sehen. Er hat gewusst, dass da etwas in Ihnen ist, über das auch er selbst verfügt – das Wissen um Innana oder die Schwarze Isis, oder wie auch immer wir die Frau nun nennen wollen.«
»Ich bin weder der einen noch der anderen jemals begegnet«, sag-te Aura, aber was sarkastisch gemeint war, klang jetzt vollkommen ernst.
»Kein Wunder.« Über Lucrecias Nasenwurzel war eine steile Falte erschienen. »Wir Sterblichen laufen selten den Göttern über den Weg.«
»Sie glauben allen Ernstes, dass es diese Frau… diese Göttin… wirklich gibt?«, fragte Aura. »Als Person?«
Salome pflichtete ihrer Schwester mit einem Nicken bei. »Und aus irgendeinem Grund hat sie Kontakt zu Ihnen und dem Chevalier aufgenommen.«
»Bewusst oder unbewusst«, fügte Lucrecia hinzu. »Glauben Sie uns, wir erleben so etwas nicht zum ersten Mal.«
Aura starrte die Schwestern an, blickte dann hinaus in die Nacht. »Sie denken, sie ist irgendwo da draußen?«
Da erinnerte sich an die Augen des Kindes. An Gian. Und sie wünschte sich, es würde endlich wieder Tag.
KAPITEL 14
Andorra im August. Zwei Täler, Valira del Nord und Valira d’Orient, eingefasst von einem Kranz schroffer Gipfel, manche fast dreitausend Meter hoch. Zwei Täler wie der riesige Krater eines Vulkans, so tief, dass man vom Pass aus keine Details erkennt, nur Grün und Blau und grauen Dunst. Zwei Täler, in denen nur wenige Tausend Menschen leben, und die doch ein eigener Staat sind.
Und das alles übergössen vom Gold der Hochsommersonne, die hier die Luft zwar zum Flirren bringt, aber doch keine wirkliche Hitze erzeugt. An den Hängen wiegen sich Gebirgswiesen unter warmen Winden, verirrte Boten der See. Eichen, Buchen und Fichten wachsen weitgestreut an den Flanken der Berge, selten stehen sie so eng zusammen, dass man von einem Wald sprechen könnte. Bäche schlängeln sich durch flache Betten, ehe sie über Klippen hinweg in ungewisse Tiefen stürzen und von den Winden zerpflückt werden, um unten als sanfter Regen niederzugehen, zu wenig, um einen See oder nur ein weiteres Rinnsal zu füllen. Hier und da erheben sich die Türme kleiner Kapellen hinter den Kuppen, und manchmal hört man ihre Glocken noch läuten, wenn der Küster längst fort ist, eine Folge der Echos, die über die Täler hinwegwehen wie anderswo das Laub vom Vorjahr. Auf den Wegen zeichnen sich die Spuren zahlloser Ochsenkarren ab, so tief, als würden die Wagen ohne Unterlass darüber hinweg ziehen. Doch wenn man sich umschaut, sieht man nur selten ein Gefährt, und niemals mehr als eines auf einmal.
Andorra im August.
Obwohl es nicht heiß ist, sehnen die Menschen den Herbst herbei, und dann wieder den Frühling. Sommer und Winter
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