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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ausgesprochen oder nur gedacht hatte.
    Sein Fuß tastete vor und stieß gegen ein Hindernis. Eine Stufe. Er stand unmittelbar vor einer Treppe. Deshalb also hatte sie ihn losgelassen.
    Der Diener redete noch immer, dumpf, aber nicht zu weit entfernt um eine zweite Stimme wahrzunehmen.

    Gillian fragte sich, ob sie sich durch eine Art Ader aus Schwärze bewegt hatten, einen Verbindungsstrang zwischen einzelnen Nestern aus Finsternis. Vielleicht musste er nur einen Schritt nach rechts oder links machen, um wieder Licht wahrzunehmen, einen Türspalt oder ein Fenster. Möglicherweise trat er damit aber auch ins Blickfeld des Dieners, und das wollte er vermeiden. Er hatte heute Abend schon zu viele Menschen getötet.
    Beim Aufstieg zählte er neunzehn Stufen, genug, um eine höhere Etage zu erreichen. Aber als sein Fuß keine weitere Kante mehr ertastete und zugleich noch immer das undurchdringliche Dunkel um ihn vorherrschte, gestand er sich ein, dass er in größeren Schwierigkeiten steckte, als er bislang angenommen hatte.
    »Aura?«, flüsterte er.
    Schweigen. Schließlich ein Raunen.
    »Ich ... ich ...« Jetzt klang es fast wie ein Kichern.
    Dann schlug eine Tür.
    Gillian bewegte sich auf gut Glück nach vorn. Als ihm keine Wand den Weg versperrte, wagte er drei weitere Schritte – und trat schlagartig in das graue Dämmerlicht einer leeren Dachkammer. Hinter ihm stand die Dunkelheit wie eine schwarze Mauer.
    »Aura?«
    Er war drauf und dran zurück in die Finsternis zu stürmen, um sie zu suchen, aber er würde wahrscheinlich Minuten brauchen, um allein die Treppe wiederzufinden. Bis dahin war Aura vielleicht schon bei ihm, falls das Gliederkind auch sie herführte.
    Und wenn es sie bewusst getrennt hatte, als Teil eines Spiels? Er durfte nicht den Fehler begehen, in dem Automatengeschöpf ein echtes Kind zu sehen. Womöglich lockte es Aura in diesem Moment schon in eine andere Richtung.
    Hastig sah er sich in der Dachkammer um. Die linke Wand
war eine Schräge aus grauen, verstaubten Balken und Brettern. Auf der anderen Seite gab es eine Tür. Als Gillian die Klinke hinabdrückte, ließ sie sich öffnen.
    Vorsichtig blickte er hinaus. Ein langer Speichergang. Zwei nackte Glühbirnen baumelten grob verkabelt von der Decke. Der raue Holzboden war nur an den Rändern staubig, irgendwer schien diesen Korridor häufiger zu benutzen.
    Noch einmal sah er zurück, war aber sicher, dass Aura hier nicht mehr auftauchen würde. Er sorgte sich um sie, und doch machte es ihm ein wenig Hoffnung, dass Galathee ihn augenscheinlich nicht in eine Falle geführt hatte. Er musste Aura suchen. Irgendwo würde es eine weitere Treppe in die unteren Etagen geben.
    Fast lautlos bewegte er sich den Korridor entlang, zur anderen Seite des Dachbodens. Als er sich dem Ende näherte, entdeckte er die gegenüberliegende Dachschräge. Dort führte der Gang um eine Ecke. Obwohl es ihm widerstrebte, zog er den Revolver aus der Tasche.
    Kurz darauf blickte er auf eine lange Reihe von Wachsfiguren. Aura hatte ihm erzählt, was der junge Octavian auf dem Dachboden trieb. Der erste Sockel war leer, dort musste diese Forscherin gestanden haben, Zuzana Octavian. Die nächsten Figuren waren in schlechtem Zustand, aber je weiter Gillian an der Reihe entlangging, desto lebensechter wurden die Gesichter. Staub lag auf der wächsernen Haut und gab ihr einen ungesunden Grauton. Vor dem strengen Auge eines Urahns saß eine Spinne in ihrem Netz, die Weben spannten sich über seine Züge wie eine Strumpfmaske.
    Schließlich erreichte Gillian den Durchgang zur dunklen Werkstatt. Die Tür stand offen. Er ließ den Schein seiner Taschenlampe über die Geräte im Inneren geistern, über zahllose Körperteile aus Wachs. Schließlich fiel das Licht auf die beiden Figuren im zentralen Karree der Werkstatt, unter der Öffnung
zur oberen Etage und einem sternenlosen Nachthimmel jenseits des Glasdachs.
    Die eine Wachsfigur war das Abbild einer schönen jungen Frau, nackt und lasziv. Die zweite Figur musste die restaurierte Zuzana Octavian sein, mit blinden, unbemalten Augen. Gillian, der vor vielen Jahren in Paris im Haus des Glasaugenmachers Piobb gelebt hatte, hatte oft genug dabei zugesehen, wie behutsam und in mehreren Schichten die Augäpfel bemalt werden mussten, um den durchscheinenden Eindruck einer menschlichen Iris zu erzeugen. Mit ihrem leeren, weißen Blick sah Zuzana aus wie eine wandelnde Tote.
    Gerade wollte er die Werkstatt verlassen, als draußen

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